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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Gleichgültigkeit Pias, der blinde Haß meiner Feinde, was mich so sehr erschöpft hatte. Am Tage konnte mich die Gesellschaft Assuntas zerstreuen, ihr Gesang, ihr mildes Wesen mir gegenüber, den sie so wenig kannte, ihre Schönheit, weiß, braun und rosenfarben, ihr Parfüm, das alle Böen des Windes siegreich überdauerte, die Feder an ihrem Hute und die Perlen an ihrem Halse. Als ich mich aber gegen neun Uhr abends gänzlich niedergedrückt fühlte, bat ich sie, mit dem Wagen zurückzukehren und mich dazulassen, damit ich mich in der freien Luft etwas erholen könne. Wir waren fast nach Honfleur gekommen; der Platz war gut gewählt, geschützt von einer Mauer, vor mir hatte ich eine Allee gewaltiger Bäume, die den Wind abhielt, die Luft war mild; Pia sagte ja und verließ mich. Ich legte mich auf den Rasen, das Gesicht gegen den düsteren Himmel gewendet. Es wiegte mich das Raunen des Meeres, das ich hinter mir vernahm, ohne es in der Finsternis richtig wahrnehmen zu können.
    Bald träumte ich, daß vor mir der Sonnenuntergang weithin das Meer und den Strand erleuchte. Die Dämmerung fiel ein, und es schien mir, als sei es eine Dämmerung wie alle andern und ein Sonnenuntergang wie alle andern. Aber jemand kam und brachte mir einen Brief, ich wollte ihn lesen und konnte nichts unterscheiden. Jetzt erst kam ich zu der Wahrnehmung, daß trotz dieses Eindrucks von besonders strahlendem und weithin ausgestreutem Licht es doch sehr dunkel blieb. Dieser Sonnenuntergang war außerordentlich bleich, strahlend wohl, aber nicht hell, und auf diesem magisch erleuchteten Sande sammelten sich so viel Massen von Dunkelheit an, daß eine mühevolle Anstrengung nötig wurde, wollte ich eine Muschel entdecken. In dieser eigenen Traumdämmerung gab es einen Sonnenuntergang von kranker und entfärbter Art, wie an einem arktischen Gestade. Meine Sorgen waren alle verschwunden, die Entschließungen meines Vaters, Pias Gefühle, die bösen Gesinnungen meiner Feinde beherrschten mich wohl noch, aber sie erdrückten mich nicht mehr; wie eine Naturnotwendigkeit waren sie mir gleichgültig geworden. Der Gegensatz zu diesem düsteren Schimmerglanz, das Wunder dieser zauberhaften Ruhe mitten in meinem Unglück machten mich nicht mißtrauisch, nicht furchtsam, sondern ich war eingehüllt, gebadet, ertränkt in einer sich steigernden Empfindung von Süße, die in ihrer Köstlichkeit so stark wurde, daß sie mich erweckte.
    Ich öffnete die Augen. Sehr bleich und sehr strahlend, so breitete sich mein Traum rings um mich aus. Die Mauer, gegen die ich schlafend mich gelehnt hatte, stand im vollstem Licht, der Schatten des Efeus zeichnete sich der Länge nach ebenso kräftig ab wie um vier Uhr nachmittags. Das Blätterwerk einer holländischen Pappel ward von einem kaum wahrnehmbaren Hauche zurückgebogen und glitzerte hell. Man sah Wellen und weiße Segel auf dem Meere, der Himmel war klar, der Mond aufgestiegen. Leichte Wolken schleierten auf kurze Augenblicke über ihn, aber dann färbten sie sich mit blauen Tönen, deren Blässe tief war wie der Scheinkörper der Quallen oder das Herz eines Opals. Überall flimmerte klares Licht, doch konnte ich es nirgends fassen. Selbst auf dem Rasen, der bis zur Spiegelung stark glänzte, blieb ein Rest Dunkelheit. Die Bäume, ein Graben waren absolut schwarz.
    Plötzlich erhob sich wie eine Unruhe ein zartes, langgezogenes Geräusch, rasch schwoll es an, es schien sich über das Gehölz dahinzuwälzen. Es war das Zittern der Blätter, die der Windstoß streifte. Und ein Stoß nach dem andern zerschellte wie eine Woge an dem weiten Schweigen der endlosen Nacht. Dann schwoll der Lärm ab und verstummte ganz. In dem geraden, ebenen Wiesengelände vor mir zwischen den beiden breiten Eichenalleen schien ein Strom von Helligkeit dahinzurollen, an beiden Seiten von Schattenmauern zusammengehalten. Der Mondesglanz rief das Wächterhaus ins Licht, das Blätterwerk, ein Segel; all das wurde aus der auslöschenden Umarmung der Nacht gezogen, aber zum Leben wiedererweckt ward es nicht. In dem schlummernden Schweigen erhellte der Mondschein nur das leere Gehäuse ihrer Form, ohne daß man die Umrisse wahrnehmen konnte, die ihnen während des Tages ihr untrügliches Wirklich-Sein gegeben hatten, wirklich bis zur Bedrückung, bis zur letzten Gewißheit ihrer Gegenwart und der steten Dauer ihrer banalen Nachbarschaft. Ein Haus ohne Tor, ein Blätterwerk ohne Stamm, fast ohne Blätter, ein Segel ohne die Barke, all dies

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