Tage der Freuden
trotz aller Bitten und Drohungen und starb ein paar Jahre nachher, ohne daß er sie noch einmal wiedererkannt hatte. – Das Leben ist wie diese kleine Freundin. Wir träumen es, und wir lieben es in seiner Traumgestalt. Man muß nicht versuchen, es zu leben. Man stürzt sich wie der kleine Junge in den Stumpfsinn, nur nicht mit einem Male, denn alles im Leben schwächt sich mit unmerkbaren Nuancen ab. Sind zehn Jahre vergangen, dann erkennt man seine Träume nicht wieder, oder man verleugnet sie, man lebt wie ein Rind für das Gras, das man im Augenblick weidet. Und wer kann sagen, ob aus unserer Vereinigung mit dem Tode unsere unbewußte Unsterblichkeit erwachsen kann?
VI
»Herr Hauptmann«, sagte der Offiziersbursche ein paar Tage nachdem die kleine Wirtschaft eingerichtet war, wo sein pensionierter Herr bis zu seinem Tode leben sollte (seine Herzkrankheit versprach ihm keine lange Lebensdauer mehr), »Herr Hauptmann, vielleicht würden Sie ein paar Bücher ein wenig zerstreuen, da Sie jetzt weder der Liebe nachgehen können noch auch sich duellieren. Was soll ich Ihnen kaufen?«
»Kaufe nichts! Keine Bücher. Sie können mir nichts sagen, was ebenso interessant wäre wie das, was ich erlebt habe; viel Zeit habe ich nicht mehr vor mir, und ich will, daß mich nur meine Erinnerungen zerstreuen. Gib mir den Schlüssel zur großen Truhe, von ihrem Inhalt will ich alle Tage etwas lesen.«
Und er nahm Briefe heraus, es entströmte ein weißliches, bisweilen auch farbiges Meer, nichts als Briefe, sehr lange, aber auch einzeilige, auf eine Karte geschriebene, manche mit verwelkten Blumen, mit Andenken versehen oder mit kargen Anmerkungen von seiner eigenen Hand, um sich die Nebenumstände des Tages zurückzurufen, an dem er sie empfangen hatte, ferner Photographien, die trotz aller Vorsicht verblichen waren, gleich den Reliquien, welche gerade die Gläubigen mit ihrer Frömmigkeit zerstört haben, denn diese küssen sie zu oft. Und alle diese Dinge waren sehr alt, es waren Andenken von toten Frauen darunter und von solchen, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Und es gab in all diesen Dingen winzige, aber scharf umrissene Zeichen von Sinnlichkeit oder Zärtlichkeit, die sich auf ein Fast-Nichts in seinem Leben mit seinen Nebenumständen bezogen, es war wie ein weitläufiges Fresko, das sein Leben abschilderte, ohne es zu erzählen, bloß in seiner tiefglühenden Farbe, in seiner sehr unbestimmten und gleichzeitig sehr eigenen Art – und vor allem mit einer ergreifenden Gewalt. Da gab es Beschwörungen von Küssen auf den Mund – auf einen frischen Mund, für den er jetzt ohne Zaudern sein Leben gegeben hätte und der sich seitdem von ihm abgewandt hatte –, solche Erinnerungen ließen ihn lange weinen. Wohl war er sehr schwach und abgenutzt, aber wenn er in einem Zuge ein wenig von diesen immer noch lebendigen Erinnerungen trank, da war es wie ein Glas Wein, stark und in derselben Sonne gereift, wie sie sein Leben verzehrt hatte, dann empfand er einen guten lauen Hauch, wie ihn der Frühling dem Genesenden gibt oder der geheizte Winterherd dem Schwachgewordenen. Er fühlte, daß sein alter, abgebrauchter Körper einst in den gleichen Lebensflammen geglüht hatte, und das gab ihm eine Nachernte des Lebens, dieselben verzehrenden Flammen. Dann dachte er daran, daß, was sich nun lang über ihn hinlagerte, einzig Schatten waren, ohne Maß, stets in Bewegung, nicht zu fassen, ach, und bald eins mit der ewigen Nacht – da mußte er weinen.
Wohl wußte er nun, daß das alles nur Schatten von Flammen waren, die fortgewandert waren, um anderswo zu brennen, und die er nicht wiedersehen würde, und doch blieb er dabei, diese Schatten anzubeten und sich ihnen hinzugeben – denn im Vergleich mit dem absoluten Nichts der nahen Zukunft bedeuteten sie Dauer für ihn. Und es gesellten sich alle diese Küsse und alle diese geküßten Haare und alle diese Lippen und Tränen und diese Zärtlichkeiten, ausgeschenkt wie Wein, um zu berauschen, das alles paarte sich mit diesen Verzweiflungen wie Musik oder wie der Abend sich paart mit dem Glück, sich ausströmen zu fühlen bis an die letzten Grenzen des Geheimnisses und der Geschicke. Diese angebetete Frau, die ihn so festgehalten hatte, daß es für ihn damals nur eines gab, ihr mit seiner ganzen Anbetung zu dienen, nun war sie ganz im Nebel verschwunden, ohne daß er sie halten konnte, konnte er ja nicht einmal den ausgestreuten Duft der wehenden Säume ihres Mantels
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