Tage der Freuden
unversiegbaren Stimme eines jungen Mädchens oder eines Jünglings, der die Gabe der Musik oder des Gesangs empfangen hat. Käme ein Fremder an der Gartenpforte vorbei, hinter der die Familie schweigt, so könnte er fürchten, durch seine Annäherung alle ihre gläubigen Träume zu stören. Aber könnte der Fremde, ohne den Gesang zu hören, die Versammlung von Verwandten und Freunden nur wahrnehmen, wie sie ganz Ohr ist – müßte er da nicht den Eindruck haben, er wohne einer unsichtbaren Messe bei? Und das heißt so viel, daß trotz der Verschiedenheit der Haltung in der echten Ähnlichkeit des Ausdrucks sich die untrügliche Einheit dieser Seelen ausspricht – die im Augenblick verwirklicht ist durch die Zuneigung, verwirklicht zu ein und demselben idealen Drama, kraft der Ausgießung in der Kommunion ein und desselben Traumes. Wenn in einem Augenblick der Wind die Pflanzen niederbeugt und weithin die Äste bewegt, da läßt ein Hauch die Köpfe sich beugen oder sich plötzlich wieder erheben. Es ist nicht anders, als ob ein unsichtbarer Bote ihnen allen einen aufregenden Bericht brächte – sie alle scheinen mit Angst zu lauschen und mit tiefer Anteilnahme oder gar mit Schauder ein und dieselbe neue Nachricht anzuhören, die indessen in jedem ein anderes Echo erweckt. Die beklemmende Erregung der Musik ist auf ihrem Gipfel, ihre Anführung wird gebrochen durch einen tiefen Fall, ein neuer Anlauf folgt, verzweifelt wie nie zuvor. Die Musik geht ohne Grenzen im Licht auf, ihre Geheimnisse verlieren sich im Dunkeln, für einen sind es die weiten, ausgebreiteten Schaustücke des Lebens und des Todes, für das Kind sind es herzbeklemmende Verheißungen von Meeren und von fremden Ländern, für den leidenschaftlich Liebenden ist dieses Geheimnis grenzenlos, es ist das Hell-Dunkel der Leidenschaft. Der Denker sieht sein ganzes sittliches Leben sich abrollen. Verliert die Melodie den Schwung und sinkt herab, so ist es sein Fallen und seine Schwäche; aber sein ganzes Herz bäumt sich auf und nimmt einen Anlauf, wenn die Melodie ihren Aufschwung wiedergewinnt. Das mächtige Grollen der Harmonien erschüttert die geheimnisvollen, reichen Tiefen seiner Erinnerung bis zum Grunde. Der Mann des tätigen Lebens atmet keuchend in dem Gewirr der Akkorde, in dem Galopp der schnellen Tonfolgen; majestätisch triumphiert er in dem Adagio. Selbst die ungetreue Frau fühlt, wie ihr Fehltritt verziehen wird, er ist zu nichts geworden, denn auch er hatte seinen himmlischen Ursprung in dem nie gesättigten Herzen, dem die täglichen Freuden nie Genüge getan haben; wohl hatte es sich verirrt und seinen Weg verloren, aber doch nur auf der Suche nach dem Geheimnis – und von diesem Geheimnis strömt jetzt diese Musik über, voll wie die Stimme der Glocken krönt sie das sehnlichste Verlangen.
Wenn auch sonst der Musiker vorgibt, er genieße in der Musik nur das Vergnügen der technischen Vollendung, so zeigt auch er jetzt alle Zeichen einer echten Erregung, denn sie ist nur verschleiert durch sein musikalisches Schönheitsempfinden, und dieses Schönheitsempfinden hatte sich seinem eigenen Blick bisher verborgen. Und zuletzt ich selbst, ich höre in der Musik die weiteste, die umfassendste Schönheit des Lebens und des Todes, des Meeres und des Himmels, und von jetzt an fühle ich in deinem Zauber noch mehr Eigenes, nie und nirgends Wiederkehrendes. O du meine teure Vielgeliebte!
V
Die Paradoxe von heute sind die Vorurteile von morgen. Denn auch die breitesten und widerlichsten Vorurteile von heute hatten einmal ihren Geburtstag, an dem die Mode ihnen ihre gebrechliche Anmut geliehen hat. Viele Frauen von heute wollen sich frei machen von allen Vorurteilen, aber was sie darunter verstehen, sind Grundsätze. Hier ist ihnen das Vorurteil zu einer schweren Last geworden, mögen sie sich auch damit schmücken wie mit einer eigenen, etwas fremdartigen Blume. Sie können nicht glauben, daß etwas nach einem tieferen Plan gebaut sei, daher messen sie alle Dinge mit gleichem Maße. Sie genießen ein Buch oder das Leben selbst wie einen schönen Tag oder wie eine Orange. Sie sagen: »Kunst« bei einer Schneiderin und Philosophie bei der »Vie Parisienne«. Sie würden es unter ihrer Würde finden, wenn sie sich ohne Klassifizierung, ohne Urteil einfach damit begnügen sollten, zu sagen: Das ist gut, jenes schlecht. Früher war’s so, daß, wenn eine Frau sich gut aufführte, sie so lebte zur Beruhigung ihrer Moral, das heißt, sie tat es
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