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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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erschien nun nicht mehr wie eine grausame, unabwendbare, unleugbare, monotone, gewohnheitsmäßige Wirklichkeit, sondern als fremdartiger Traum, ohne inneren Zusammenhang und strahlend mit seinen schlummernden Bäumen, die ihr Haupt in die Dunkelheit versenkten. In der Tat, nie hatte der Wald so tief geschlafen, man fühlte: der Mond hatte diesen Augenblick benutzt, um den Wald ohne Laut in den Himmel zu führen – und über das Meer dieses große, sanfte, bleiche Fest. Meine Geliebte war verschwunden. Ich hörte meinen Vater, wie er mich schalt, meine Feinde, wie sie Verschwörungen schmiedeten, und nichts von alledem erschien mir wirklich. Die einzige Wirklichkeit lag in diesem unwirklichen Lichte, und diese rief ich lächelnd an. Ich verstand nicht, welche geheimnisvolle Ähnlichkeit hier meinen Kummer, meine Sorgen mit den feierlichen Geheimnissen dort vereinigte, die in den Wäldern gefeiert wurden, im Himmel und über dem Meere; aber ihre Deutung fühlte ich, ihre Verzeihung war vollzogen, es war ohne Bedeutung, ob mein Verstand das Geheimnis wußte oder nicht, wenn nur mein Herz es gut erriet. Mit ihrem Namen rief ich die heilige Mutter der Nacht, meine Schwermut hatte im Monde ihre unsterbliche Schwester wiedererkannt, der Mond strahlte über den verwandelten Schmerzensfiguren der Nacht und in meinem Herzen, wo sich das Gewölk zerstreut hatte und wo aufgegangen war in ihrem Strahlenglanze die Melancholie.
2
    Nun hörte ich Schritte. Assunta kam zu mir, ihr lichtes Haupt erhob sich über einem weiten, dunklen Mantel. Sie sprach sehr leise zu mir: »Ich hatte Angst, daß Sie frieren. Mein Bruder ist zu Bett gegangen, ich bin zurückgekommen.« Ich näherte mich ihr. Ich zitterte, sie nahm mich unter ihren Mantel, und um den Saum des Mantels besser halten zu können, legte sie ihre Hand um meinen Hals. Wir machten einige Schritte unter den Bäumen, dann in tiefer Dunkelheit. Irgend etwas funkelte vor uns, ich hatte nicht Zeit auszuweichen und machte einen Sprung zur Seite, aus Angst, daß wir gegen einen Stamm stoßen könnten, aber das Hindernis verlor sich vor unseren Füßen, wir waren in den Mond getreten. Ich näherte meinen Kopf dem ihren. Sie lächelte, ich begann zu weinen, da sah ich, daß auch sie weinte. So verstanden wir nun, daß der Mond weinte und daß seine Traurigkeit im Verein war mit der unseren. Die ergreifenden und sanften Rufe seines Lichtes gingen uns zu Herzen. Wie wir weinte auch er, und wie wir’s fast immer tun, weinte er, ohne zu wissen warum, aber er fühlte es so tief, daß er in seine stille, seine unwiderstehliche Verzweiflung die Wälder mit hereinzog, die Felder, den Himmel, der von neuem sich im Meere spiegelte, und mein Herz, das endlich klar sah in seinem Herzen.
IX
Tränen fließen aus vergangenen Liebesschmerzen
    Die Rückkehr der Roman-Dichter oder ihrer Helden zu ihren abgestorbenen, geschiedenen Liebesgefühlen, so rührend sie für den Leser sein mag, ist unglücklicherweise mehr Kunst als Natur. Hier ist ein Gegensatz zwischen der Unermeßlichkeit unserer vergangenen Liebe und dem absoluten Nullpunkt unseres augenblicklichen Empfindens, wovon uns tausend greifbare Einzelheiten bewußt überzeugen – ein Name, der in der Unterhaltung genannt wird, ein Brief, wiedergefunden in der Schreibtischlade, die Begegnung mit der Person oder, besser noch, ihr Besitz nach dem großen Tag, um es so zu sagen –, dieser Konflikt, sage ich, so herzergreifend, so von stillen Tränen verhalten er sich uns in einem Werke der Kunst zeigen kann, wir stellen ihn ungerührt im Leben fest; der mathematisch genaue Grund dafür ist, daß wir nun in einer Atmosphäre von Gleichgültigkeit und Vergessen leben, daß die einst so Tiefgeliebte und das Gefühl selbst jetzt nur unser ästhetisches Wohlgefallen erregen, und vor allem, weil mit der Liebe auch die Unruhe verschwunden ist und die erhöhte Fähigkeit, zu leiden. Die erdrückende Melancholie dieses Gegensatzes ist nichts als eine Wahrheit der Moral. Sie würde psychologisch zur Wirklichkeit, wenn ein Schriftsteller sie an den Beginn einer Leidenschaft setzen wollte statt an deren Schluß.
    Oft kommt es vor, daß wir im Beginn einer Liebe uns von der Erfahrung und von unserem Scharfblick warnen lassen (trotz des Widerspruchs des Herzens, das auf seinem Gefühl besteht oder vielmehr auf der Illusion einer ewigen Dauer dieses Gefühls), und weil wir wissen, daß eines Tages der lebendige Mittelpunkt unseres Daseins uns ebenso gleichgültig

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