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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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kaum spürte sie meine Verfolgung, sofort über die nächste Brücke, und ich folgte ihr durch immer einsamere Gassen, bis sie an einer Ecke plötzlich stehenblieb, sich wendete und fragte, was ich wollte. Als ich guten Abend sagte, lächelnd über ihren Zorn, zweifelte ich noch einen Augenblick, ob es wirklich das Mädchen wäre, das nebenan wohnte; sie ist jünger, als ich am Morgen gemeint habe, fast noch ein Kind, aber auch häßlicher.
    »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie: »ich habe Ihnen nie ein Zeichen gegeben, ich habe mich immer sehr garstig benommen, ich weiß, auch vorgestern, als wir in dieser gleichen Gasse standen –«
    »Vorgestern?«
    »Oh, ich habe Ihre Schritte schon gehört, wenn Sie an meinem Versteck vorübergingen, jedesmal – ganz deutlich – und einmal haben Sie sogar meinen Namen gerufen.«
    »Ich?«
    »Warum leugnen Sie es?«
    Sie lächelte nur, sooft ich ihr die Wahrheit erklärte; ich erzählte ihr meine Reise im Gewitter, meine Ankunft im Morgengrauen; sie lächelte nur, noch wenn ich es beschwor, wie über eine Ausrede.
    »Übrigens weiß ich nicht, vielleicht waren auch Sie die ganze Nacht in dieser fürchterlichen Gegend, vorgestern, obschon Sie sich nicht mehr gezeigt haben. Das war sehr vornehm von Ihnen! Ich wußte nicht, daß sie die Brücke schließen, wenn es Nacht wird.«
    »Welche Brücke?«
    »Es war die erste Nacht, die ich im Freien verbracht habe –«
    Ich verstand kein Wort, aber wir waren unversehens ein paar Schritte gegangen, langsam, und das genügte, daß sich dadurch unsere Beziehung irgendwie veränderte. Es war nun, als gingen wir zusammen. Es war eine Übereinkunft. Das Mädchen mußte es ebenfalls empfunden haben; ihr Ton war vertraulicher:
    »Ich habe gewußt, daß Sie nochmals kommen, schon gestern habe ich Sie erwartet, obschon das Gewitter war –«
    »Und darum hast du genickt?«
    »Genickt?«
    »Heute morgen, meine ich.«
    Sie weinte, und natürlich wollte ich sie trösten, wußte aber nicht ihren Namen; als ich sie danach fragte, drehte sie sich um, zeigte mir ihren schmalen Rücken, dem man das Schluchzen ansah.
    »Ich will nicht«, sagte sie: »ich will nicht –«
    Ich legte die Hand auf ihre Schulter, aber im gleichen Augenblick und mit einem lauten Nein riß sie sich los, und bevor ich begriff, was das solle, war sie verschwunden … Einen Augenblick zögerte ich, ob ich ihr nachgehen sollte, unterließ es aber … Unterdessen war es Nacht geworden; die Häuser standen schwarz und tot, als wohnte kein Mensch darin, und die Brücke, wie ich später feststellen mußte, war wirklich geschlossen. Fast eine Stunde, so schätze ich, saß ich unten an der Moldau. Es wurde die zweite Nacht, da ich nicht zum Schlafen kam, und ich dachte, was unser Graf für eine Miene machen würde, wenn ich einfach nicht heimkehrte. Gegen die Frühe wurde es immer kälter. Ich dachte an das fremde Mädchen, das nur ein dünnes Kleid trug. Man mußte gehen, damit man nicht schlotterte. Daß ihr Gang mich an Anja erinnert hatte, ich sagte mir selber, es ist nicht verwunderlich, wenn man gerade von der Erinnerung an einen bestimmten Menschen erfüllt ist; es ist eine Täuschung, nichts weiter, eine Einbildung, die nichts bedeutete. Immerhin drängte es mich, das fremde Mädchen noch einmal aufzusuchen; ihre Verwirrung tat mir leid, obschon ich nichts dafür konnte, und ich hätte viel darum gegeben, wenn sie noch einmal an der öden Straßenecke gestanden hätte; wenn sie mir bloß ihren Namen gesagt hätte. Bei jedem Geräusch blieb ich stehen, horchend, ob es nicht ihre Schritte wären; natürlich war es nur das Laub, das von den Bäumen fiel, das Knarren eines Tores, wenn der Wind ging, oder es war das Echo meiner eigenen Tritte, und je länger ich durch die nächtlichen Gassen streifte, um die Unbekannte wiederzufinden, und je aussichtsloser mein Suchen sich erwies, um so verrückter wurden meine Gedanken. Die Nacht schien endlos. Ich erwog allen Ernstes, ob das fremde Mädchen, dessen Gang mich an Anja erinnert hatte, nicht unser eigenes Kind hätte sein können. Nach den Jahren hätte es stimmen können. Ich hörte das Blut in meinen Schläfen. So genommen, sagte ich mir, stimmt es auch mit hunderttausend andern. Daß Anja noch lebte und daß sie ihr Kind, das ich damals nicht haben wollte, dennoch geboren hätte, es war möglich, gewiß, aber nicht wahrscheinlich, und ich konnte es eigentlich nicht glauben, nicht ernsthaft, ichspielte nur so mit dem Gedanken,

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