Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
zweiten Faust:
Gestaltung, Umgestaltung
Des ewigen Sinnes
Ewige Unterhaltung.
Wo aber, wenn wir es so sehen, bleibt das Richtige, das ein Stil gegenüber andern voraushaben soll? Jakob Burckhardt und der Barock; seine Entrüstung ist so begreiflich: er mißt den Barock nicht an den Schaffenszielen des Barock, sondern der Renaissance. Ich gestatte mir die Randglosse: Jakob, auch du? Denn damit macht sogar er, der Würdigsten einer, nichts anderes alsdas Geschmeiß der kleinen Rezensenten, wenn sie etwa einem Brecht, der sich seit Jahrzehnten um episches Theater bemüht, vorwerfen, sein Theater sei nicht dramatisch … Oh, über unsere Urteile! Wenn ein so hoher Geist wie dieser Burckhardt sogar vergangenen Epochen gegenüber befangen bleibt, sehend für das eine, blind für das andere, wie soll dann der Schaffende, der Beteiligte, der Befangene jemals ein überpersönliches Urteil gewinnen?
Ein schwerer Sturm … Der kleine Sandstrand, wo wir täglich gebadet haben, ist eine Geröllhalde. Bäume, geknickte, hangen über die Felsen. Etwas wie Befreiung. Wir wandern bei strömendem Regen an der Küste entlang. Säulen von Gischt. Der Himmel ist grau und violett, metallisch. Steine auf der Straße. Überschwemmung in Santa Margherita, der halbe Platz unter Wasser; hinter den perlenden Scheiben stehen weiße Kellner. Geflatter von zerrissenen Stores. Die großen Bunker, die im vorigen Jahr noch standen, sind jetzt gesprengt. Unterwegs fliehen wir unter ein Gewölbe; Sintflut, dazu donnert es wieder. Vor uns das rollende Meer; warum soll es nicht einmal steigen, drei Meter oder zehn Meter? Eine gewisse Wonne der Panik, alle Schranken werden fraglich, das Unsichere wird offenbar, das Abenteuer zu leben. Später nehmen wir einen Bus, einen Schnaps in Rapallo. Der Regen hat nachgelassen, aber nicht der Wind; der Quai, der sich eben im Bau befindet, ist eingerissen, Arbeiter und Feuerwehr versuchen zu retten, was zu retten ist, der fertige Beton hält stand, aber die Versprießungen sind weg, und die große Platte, die eben hätte betoniert werden sollen, ist ein wirres Eisengitter, die Schalung zersplittert, die Brandung wirft einzelne Bretter ans Land, es läuten die Glocken, ich weiß nicht warum, aber es paßt vortrefflich dazu …
Zur Architektur
Äußerst beherzigenswert sei es, schreibt Burckhardt, daß kein Stoff sich für etwas ausgibt, was er nicht ist, und hundert andereSätze dieser Art, die, obschon über die Renaissance gesagt, auch zu unserem Einmaleins gehören. Kongruenz von Funktion und Form. Nur mit wesentlich anderen Aufgaben, die andern Bedürfnissen zu entsprechen haben, vor allem auch mit anderen Stoffen, die ihre anderen Gesetze haben; doch das Grundsätzliche bleibt, Syntax mit anderen Wörtern – und doch sehen wir unsere Gebildeten, wenn sie etwa einem Corbusier begegnen, oft hilfloser als vor einer Südseemaske.
Warum?
Unser Verhältnis zur eignen Zeit, eben jener Ton: Und so kommt der Geist mehr und mehr auf den Hund und schließlich auf uns … Auf der Akropolis gibt es den sogenannten Perserschutt, Skulpturen der Vorfahren, verwendet zum Hinterfüllen der neuen Mauer: die das tun, sind zweifellos, daß sie ihr eigenes Kunstwerk schon selber schaffen. Ähnlich wieder in Italien: die oft schamlose Plünderung antiker Bauten, Plünderung nicht durch Vandalen, sondern Architekten, die Säulen brauchen, Marmor, um selber zu bauen. Her damit! jetzt leben wir. Ein ungeheures Gefühl für die Gegenwart, pietätlos wie das Leben, das Antihistorische dieser Haltung sogar bei der Renaissance, die sich selber vorgibt, die Antike zu wollen; aber sie heißt ja auch nicht Reconstruction, sondern Renaissance. Überall das lebendige Bewußtsein, daß nicht das Geschaffene wichtig ist, nicht in erster Linie, sondern das Schaffen. Ich würde sagen: auch wo das Neue jedenfalls minderen Wertes sein wird, ist es wichtiger, daß es geschaffen wird, wichtiger als die Bewahrung, deren Sinn damit nicht geleugnet wird. Es gehört zu den Faszinationen von Italien, die sich in persönliches Glücksgefühl verwandeln: zu sehen, wie jede Epoche sich als Gegenwart ernstnimmt, wie rücksichtslos sie vorgeht, um zu sein.
Und wir?
Vor wenigen Jahren hatten wir in Zürich einen architektonischen Wettbewerb für ein neues Kunsthaus; jedermann erkennt, daß der Platz, der vorgesehene, eine ganz erfreuliche, freie, restlose Lösung nicht gestattet, doch man getraut sich nicht, ein altes Zürcherhaus mittleren Wertes
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