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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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hundertundfünfzehn Gramm. Genannte Radioaktivität bleibe fünfundzwanzig Jahre wirksam in der Atmosphäre. Fünfhundert Bomben, abgeworfen innerhalb von fünfundzwanzig Jahren, sollen genügen, um auf dieser Erde sämtliches Leben abzuschaffen.
     
    Festa dell'uva … Sonntagabend; wir geraten in ein großes Gedränge, Straßen mit lustiger Erleuchtung, Girlanden von Glühbirnen, eine Blechmusik spielt Verdi, ringsum steht Volk, zufrieden, Trauben essend, an offenen Fenstern lehnen die Weiber, ihre Brüste zwischen verschränkten Armen, und genießen den Rummel von oben, Kinder schreien, Vollmond über San Lorenzo, überall gibt es Stände mit Trauben, bengalisch beleuchtet, Stände mit billigen Spielsachen, Stände mit Kuchen, die just gebacken werden in etwas stinkendem Fett. Ein Mann kauft eine Art von Kirschpfannkuchen, bricht ihn sorgsam, gibt seiner greisenhaften Mutter, dann der Frau und dem Kind, den Rest schiebt er sich in den Mund. Überall viel festliche Erwartung, ohne daß irgendwo eine sichtbare Erfüllung eintritt; ein Harlekin macht Späße zur Gitarre, ringsum zufriedene Gesichter. Das Volk erscheint als ein unendlich schlichtes, bescheidenes und für das Leben dankbares und unendlich hoffendes Kind, harmlos und verspielt, arglos; inbegriffen die Männer, die ihren Wein trinken und plötzlich mit Todesernst streiten, die kleinen und unsicheren Dirnen, die am Dämmerrand stehen, Verdi hören und nicht ganz wissen, wie man es meint, wenn man ihnen insGesicht schaut oder auf das Kruzifix am Busen. Ein Krüppel sitzt am Boden und geigt, Uniform der italienischen Luftwaffe, auch junge Burschen bleiben stehen und geben ihm. Einmal hupt ein Lastwagen, der mitten durch die Menge fahren muß; zwei schöne weiße Rinder auf ihrer Todesfahrt. Ein alter Mann verkauft Fähnlein aus Papier, das Sternenbanner, aber auch Sichel und Hammer, ferner Hampelmänner, Flugzeuge aus Blech, Affen aus Stoff. In einer Bar wird gesungen. Geruch von Latrinen. Schwatzende Mütter sitzen auf dem Randstein, Säuglinge im Arm – sie alle unendlich bescheiden, unendlich hoffend …
     
    Ich skizziere viel, um zu sehen, und werfe es wieder weg. Auch vom Geschriebenen bleibt fast nichts. Eben habe ich mein Heftlein gezückt, um für alle Zeiten, die sich noch mit Europa befassen mögen, festzuhalten: Der Palazzo Vecchio, laßt euch durch die Masse nicht bluffen, ist ein elendes Pfuschwerk. Nähere Auskunft auf Anfrage; wie verlogen der Turm auf der Fassade sitzt. Was sagt wohl der große Jakob dazu? –
    »Größe, Erinnerungen, Steinfarbe und phantastischer Thurmbau geben diesem Gebäude einen Werth, der den künstlerischen bei Weitem übertrifft.«
    Auch schon bemerkt, auch schon gesagt.
    Fiesole.
    (Ich denke wieder an die Herren vom Trust, die ihren Zement nicht liefern wollen für unser Volksbad. Die Industrie, der sie sich verwaltungsrätlich verbunden fühlen, hat zur Zeit so dringende Bauten, um ihre Gewinne unterzubringen. Die Industrie, sagen sie, könne den Bau einer solchen Anlage jetzt nicht gutheißen. Wer hat gutzuheißen? Das Volk hat abgestimmt. Ihr unverfrorener Vorschlag: die Stadt könne ja ausländischen Zement beziehen, der zwar teurer ist, aber ebenfalls nur durch diesen Trust erhältlich. Die Gruben für unsere Bassins sind ausgebaggert. Ich bin neugierig auf den Entscheid.) Reste eines römischen Bassins …
     
    Zum Abschied bei Michelangelo … Seine Sklaven, die unvollendeten; die Klötze, noch als solche erkennbar, sind viel knapper, als man bei den angehauenen Figuren vermuten möchte. Die Gebärden sind von vornherein in einem strengen Kubus gefaßt. Wirkliche Bildhauerei: nicht das Kneten einer Gestalt, sondern das Heraushauen, das Erlösen einer Gestalt. Es ist das Faszinierende an Michelangelos zahlreichen Fragmenten, daß sich wie selten das Schöpferische als solches darstellt. Vorgang, nicht Ergebnis. Das Geburthafte mit Qual und Wunder. Wer will? Vielleicht die Gebärenden; das Geborene: wehrlos, Opfer. Es ist der Augenblick, den er in der Sixtinischen Kapelle zum Vorwurf genommen hat: die Erweckung des Adam, und hier wie nirgends sonst begreife ich das Herkulische seiner Gestalten, es ist so, als kämpften sie um ihre Geburt oder als wehrten sie sich gegen den, der sie zur Geburt zwingen will. Auch im Adam, wie der Gottesfinger ihn erweckt, ist dieser Zwiespalt; halb staunend und dankend, halb trauernd empfängt er das Leben, das er nicht gewollt, nicht erfleht hat. Er ist Gottes Geschöpf und

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