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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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einfach abzureißen. Das Neuealso, das Unsere, ist im Grunde schon verworfen, bevor wir unseren Zeichenstift ergreifen. In dieser Luft dürfen wir nun schaffen, von keiner Erwartung begleitet, bemuttert von historischer Pietät, die alles Maß übersteigt, umgeben von der fraglosen Selbstpreisgabe unsres Geschlechtes … Bildung als Perversion ins Museale –

Florenz, Oktober 1947
    In der Gasse, vor unserem Hotel, spielen zwei Kinder; ein fünfjähriger Bub, rachitisch, und ein Mädchen mit Spielzeugpistole: sie spielen Händehoch, wobei der Kleine, eher mürrisch und unwillig, sich an die verpißte Mauer stellen muß – nur daß er dann umfallen soll, begreift er nicht; das Mädchen macht es ihm vor – aus der Erfahrung ihres siebenjährigen Lebens.
     
    In der Kammer von Savonarola: Der Mann fasziniert, das Profil, daneben das kleine Bild von seinem Scheiterhaufen, das schwarze Gericht der Rechtdenkenden, doch etwas muß man diesen Richtern schon lassen: sie sehen auch gleich der Hinrichtung zu, alles liegt örtlich und zeitlich beisammen, ein hölzerner Steg führt vom Gericht hinüber zum roten Feuer. Dabei empfinde ich etwas wie neulich auf dem Fischmarkt: alle Zusammenhänge sind offensichtlich, in einem menschlichen Maßstab übersichtlich, nicht anonym. Was es auch sei, Fischerei und Handel, Gericht und Hinrichtung, es verblaßt nicht in Begriffe; alles bleibt konkret. Wogegen wir in Begriffen leben, die wir meistens nicht überprüfen können; das Radio überzeugt mich von hundert Dingen, die ich nie sehen werde, oder wenn ich sie dann einmal sehe, kann ich sie nicht mehr sehen, weil ich ja schon eine Überzeugung habe, das heißt: eine Anschauung, ohne geschaut zu haben. Die meisten unsrer Begriffe, wenn sie konkret werden, können wir gar nicht ertragen; wir leben über unsere Kraft. Es wird mir übel, wenn vor meinen Augen ein Schwein geschlachtet wird mit blankem Messer, ich habe dann gar keine Lust aufSchinken; sonst schätze ich ihn sehr. Unser Denken muß konkret werden! Man müßte sehen, was man denkt, und es dann ertragen oder seine Gedanken ändern, damit man sie denken darf. Georg Büchner im Danton, als Danton in das Gefängnis geführt wird: Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden, blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen! Ein Motto, das heute über fast ganz Europa hängt. Und in diesem Sinne empfinde ich die Richter, die so neben dem Feuer sitzen und ihr Besserwissen lodern lassen, immerhin nicht das Letzte, was es an Menschen gibt; Wort und Tat sind eins.
     
    »Marxismo – Cristianismo?«
    Wenn der letztere seine zweitausend Jahre dazu verwendet hätte, auch jene seiner Satzungen ernst zu nehmen, die sich auf das Diesseits beziehen, kann ich mir nicht denken, daß der erstere eine wirkliche Bedrohung darzustellen vermöchte.
    Viel Bettler auch hier.
    Gar nichts übrig habe ich für jene, die sich vor die Kirchen stellen, deren Kreuzgang wir besuchen, und auf meine christliche Wallung lauern. So nicht! Ich bevorzuge die andern, die vor den Tisch kommen, wenn man im Freien ißt, stehenbleiben, bis der flinke Kellner den schwarzen Kaffee bringt und ich meine Zigarette anstecke, und sagen: »Mangiato?«
     
    Die Pietà von Michelangelo. (Aus der Capella Barberini in Santa Rosalia in Palestrina.) Hier ist das Schöne zu Ende; die Last der Leiche mit den einknickenden Beinen und den hangenden Armen, das Gräßliche eines Leibes, der nur noch der Schwere gehorcht, die Angst, daß seine zufälligen Bewegungen plötzlich grotesk, puppenhaft lächerlich werden. Und dahinter die Mutter; unvollendet, Steinmasse, das ferne Erwachen einer Gestalt, ein Emporkommen aus dem Urdunkel, das noch nie ein Licht empfangen hat, ihre Zärtlichkeit hinter einem schweren Schleier von Gestein. Das Über-Schöne: Die Leichen, die sie auf Lastwagen verladen und dann in eine Kalkgrube geworfen haben, mankann sich ihrer erinnern, ohne daß man über seinem Kunstvergnügen erschrickt; auch sie sind hier enthalten. Sie sind nicht durch eine Schönbildnerei verhöhnt und verraten. Erst wenn das Gräßliche inbegriffen ist, beginnt die mögliche Erlösung, die mehr ist als eine voreilige Harmonie.
     
    Eine italienische Zeitung, die Constanze mir übersetzt, berichtet folgende Daten: die Atombombe von Bikini entwickelte eine Radioaktivität, entsprechend einer Radiummenge von siebzigtausend Tonnen. Vorhandenes Radium, das bisher für Heilzwecke verwendet worden ist:

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