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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Gottes Opfer. In seinem erglänzenden Auge ist beides, Trotz und Demut …

Unterwegs
    Zwei Stunden in einem überfüllten Autobus. Wir sind die einzigen Fremden in dieser schaukelnden Sardinenbüchse. Überall Halt; ein Arbeiter will einsteigen. Wieder Halt: eine Frau mit Säugling will aussteigen. Wie viele schöne Menschen! Bei längerem Hinsehen: meistens sind sie nicht einmal so schön, aber fröhlich. Nicht übermütig, nicht laut, aber fröhlich, lebendig, höflich. Wie sie sich mit dem Gedränge abfinden, einander helfen, und es ist nicht die besondere Stimmung eines Festes, eines Ereignisses; Alltag, Arbeiter, Geistliche, Frauen, die zum Markt fahren, Körbe mit Eiern, Kinder, Rucksäcke voll Armut, eine Sichel, ein junges Schaf, das in Siena verkauft wird, Alltag: und man hat ein Gefühl von Kultur wie selten, von lebendiger Humanität.Man soll nicht von einem ganzen Volk reden! nun tue ich es doch: ich liebe das italienische.

Siena, Oktober 1947
    Türme: – Backstein ohne alles, ohne besondere Gliederung, einfach ein schlanker Körper aus ziegelrotem Stoff, dann die scharfe Kante zwischen Licht und Schatten, ebenso scharf und dennoch anders sind die Kanten zwischen Körper und Raum, zwischen Turm und Luft, zwischen Stein und Himmel. Man redet immer gerne von Verhältnissen; dabei sind sie, näher betrachtet, nicht immer sehr glücklich, oft verkrüppelt, durch späteren Ausbau verschandelt, durch eine Aufstockung verstumpft wie gerade dieser Palazzo Pubblico. Aber es bleibt das Köstliche: das Körperliche überhaupt. Alle Körper haben hierzulande ein ungewohntes, fast bestürzendes Dasein. Was uns bewegt, was uns beglückt und überrascht und bannt, ist das Dasein, das uns in einem solchen Körper entgegensteht, das Dasein schlechthin, das Rätselhaft-Allbekannte, das Geheimnisvoll-Alltägliche: daß es Dinge gibt –.
    Das Gefühl, selber zu sein.
     
    Siena wird für diesmal unsere letzte Station sein. Autobusse stehen da: Arrezzo, Orvieto, Roma. Selbst in solchen Stunden, wo man sie schmerzlich empfindet, halte ich die berufliche Bindung für einen Segen. Zwang zur Beschränkung, Steigerung des Genusses.
     
    Im Schatten sitzend lese ich die Geschichte des Domes, die Geschichte einer Vermessenheit. Siena will den größten aller Dome. Der bisher vorhandene Dom, lese ich, wäre gerade noch als Querschiff verwendet worden. Das neue riesenhafte Längsschiff, das dann nie vollendet worden ist, steht da mit einer Seitenwand, fünf Achsen mit Rundbogen, und mit einer fertigen Stirnwand; dann kommt die Pest, die Siena für etliche Jahrzehntelähmt, aber nicht von seinem verstiegenen Vorhaben abzubringen vermag. Die Enkel bauen weiter. Das Unbesonnene, das dem Größenwahn eigen ist, zeigt sich, sobald man den Plan genauer prüft; die bereits vorhandene Mittelkuppel und das neue Hauptschiff hätte man nie vereinen können; hinzu kommt, daß die Fundamente sich zur Enkelzeit als ungenügend erweisen, die begonnenen Gewölbe beginnen sich zu spreizen: Man gibt es auf. Das Ergebnis ist wunderbar! Es bleibt ein Platz unter offenem Himmel, aber der Innenraum, der gewollte, ist bereits vorstellbar, man sieht: dieser Raum, der jetzt noch keiner ist, wäre dem Uferlosen entrissen worden, der Sonne entzogen. Der Raum als Dasein, wie zuvor der Körper des Turmes; nämlich der umgrenzte, der gefaßte und gestaltete Raum, der den unbegrenzten und unfaßbaren erst zur Ahnung bringt.
    Form: wenn das Unvorstellbare, das Dasein, sich darzustellen vermag –?

Unterwegs
    Im Speisewagen – Aufenthalt in einem kleinen zerschossenen Bahnhof – gegenüber einem offenen Viehwagen, der ebenfalls steht und voll Menschen ist, Italiener, die zur Arbeit fahren, Männer und Frauen, Burschen, Mädchen, die uns auf den Teller blicken: ohne Vorwurf, ohne Miene, müde und stumpf, als gebe es nun einmal zweierlei Menschen, solche, die sitzen, und solche, die stehen, solche, die essen, und solche, die nicht verhungern, solche, die es in Ordnung finden, und solche, die es nicht ändern können, obschon es nur eine Glasscheibe ist, obschon sie in der Mehrzahl sind …
    Warum können sie nicht?

Café Odeon
    Das Wort, womit man zur Zeit am meisten Unfug treiben kann, heißt Nihilismus – man muß nur unsere Zeitungen blättern, undschon haben sie wieder einen! Sartre ist einer, Wilder ist einer, Jünger ist einer, Brecht ist einer … Wahrlich, ein verbindendes Wort! Ich sehe sie förmlich, unsere Rezensenten zweiten Ranges, sie stöbern

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