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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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geschieht aber nichts. Eine Woche lang geht sie jeden Abend hinauf, um dem Oberst sozusagen Gesellschaft zu leisten, immer im Abendkleid; unten im Keller tut sie, als spreche er wirklich deutsch, erfindet Gespräche, die sie mit dem Russen geführt habe, Gespräche über Rußland und so. Ihr Mann ist einigermaßen beruhigt, spürt aber, daß sie nicht ungerne hinaufgeht, daß sie ihm selten in die Augen blickt, daß sie sich wirklich kämmt, um wirklich schön zu sein und so weiter. Mit der Zeit (der Bericht ist sehr sprunghaft) hat sich offenbar eine Liebe ergeben, die auch gelebt wird. Ohne Sprache. Es endet damit, daß der Oberst sie auf dienstlichen Befehl plötzlich verlassen muß, weg von Berlin; beide hoffen auf Wiedersehen. Er ist nicht wiedergekommen. Der Mann, der gerettete, spricht von dem Russen stets mit kameradschaftlicher Achtung; die russischen Verhältnisse und Einrichtungen, wie seine Frau sie damals im Keller erzählt hat, scheinen ihn nicht wenig überzeugt zu haben. Woher sie ihre Wissenschaft hatte,da der Oberst doch nur russisch konnte und sie nur deutsch? Vom russischen Sender in deutscher Sprache, den sie abzuhören pflegte, als ihr Mann im Osten gefangen war …
     
    Zeitungen melden den Tod von Ricarda Huch.
     
    Kleiner Empfang durch den Kulturbund, der im Westen verboten ist. Einige bekannte Gesichter, die als Emigranten in der Schweiz gewesen sind. Verlage bieten sich an; ernsthaft und mit verblüffenden Auflagen, mit ordentlicher Herstellung. Kleines Nachtessen in der sogenannten »Möwe«, wo die Künstler ohne Marken speisen können: zwei Kartoffeln, Fleisch, etwas Grünes sogar, Bier.
    Vormittags im amerikanischen Funk.
    Beide Seiten werben Söldner …
    Dann in der Untergrundbahn: fast alle mit einem Bündel, einem Rucksack, einer geschnürten Schachtel. Neben Gesichtern, die aus Lehm und Asche sind, gibt es auch gesunde, straffe, volle, aber ebenso verschlossen, oft larvenhaft. Worüber wird geschwiegen? Erst aus der Nähe, zusammengepfercht, sieht man die Armut am Kragen, am Ellbogen. Berlin in seinen letzten Anzügen. Die Frauen, auch wenn sie Hosen tragen, schwere Schuhe und Kopftücher, sind meistens sehr gepflegt.
    Am Abend bei Freunden.
    Überall Menschen, die einander auf Anhieb verstehen, überall wenige; die Unterschiede, wenn man sie nicht leugnet, haben ihren eigenen Segen. Warum gelingen die meisten Freundschaften in der Fremde?
     
    Heute bei den Russen. Höflicher Empfang von den beiden Herren, die tadelloses Deutsch sprechen. Wir unterbreiten das Anliegen, das mienenlos entgegengenommen wird. Dann zum gemeinsamen Mittagessen, chambre séparée, ein einfaches, doch reichliches Essen aus simplem Geschirr, dazu Wodka in großen Gläsern. Ihre Kenntnis der deutschen Literatur, der deutschen Philosophie; Gespräch über drei Stunden. Die Russen nehmenden Geist sehr ernst; offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute, denen auf der andern Seite, von wenigen Ausnahmen abgesehen, viel freundliche Nullen gegenüberstehen. In Frankfurt trafen wir einen Amerikaner, einen Prachtkerl an Hilfsbereitschaft, der durch uns zum erstenmal von Eliot gehört hat; Theatre Officer. Freilich haben die beiden Russen, die uns drei Stunden lang in ein höfliches Verhör nehmen, auch keine Wahl, ihre Posten zu verlassen, wenn sie eine andere Aufgabe lockt. Für einige Augenblicke erscheint Oberst Tulpanow. Ein sehr fremder, undurchschaubarer, starker Kopf, rund und kahl. Kurze Begrüßung im Stehen. Unser Gespräch, das sich immer wieder mit Bedacht an Theaterfragen hält, hat keinen einzigen Namen zutage gefördert, der ihnen nicht bekannt ist, literarisch und politisch bekannt. Gefühl von Kartothek. Nachher bin ich so müde, daß ich sitzend, ohne den Mantel auszuziehen, einschlafe – in einer Garderobe des Deutschen Theaters, das dem Jüngling einst wie ein Olymp erschienen ist; als ich gelegentlich erwache, sehe ich mich allein, die Vorstellung hat bereits begonnen …
    »Tartuffe.«
    Unser Anliegen wird übersetzt und nach Moskau gedrahtet. Übermorgen kann die Antwort da sein. Es wird ein Nein sein, ein höfliches. Es gibt Dinge, die man versuchen muß, bevor man sie mit Anstand aufgeben darf.
     
    Kurfürstendamm.
    Kurt kauft eine kleine Skizze von Liebermann. Ferner gäbe es: drei Täßlein aus Meißner Prozellan, ein alter Stich, darstellend die Garnisonskirche zu Potsdam, ein Aschenbecher aus Messing, Brieföffner, Ohrringe und was man sonst nicht braucht. Alles unerschwinglich,

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