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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Plakatsäulen gibt, halb erschütternd, halb beklemmend: – wir hätten einander nie verstanden.
     
    Abend in der Bücherstube eines alten Freundes, Blick auf den Main, wir packen unsere Eßwaren aus, und alles ist selbstverständlich, wir können hier schlafen, ein lebendiges und heiteres Gespräch bis drei Uhr.

Zur Schriftstellerei
    Selbst wenn dieser Aufruf der Schriftsteller zustande kommen würde, könnte er eine wirkliche Bedeutung haben? Die Völker wollen den Frieden; würden die Schriftsteller, und wenn es solche mit Ruhm sind, als die Stimmen ihrer Völker gelten? Ich denke mich als Zeitungsleser, dem dieser Aufruf unter die Augen kommt; meine Regung: Sieh mal an, die Schriftsteller aller Welt! und nachdem ich etwas flüchtig geprüft habe, welche Namen mir ein Begriff sind und welche fehlen, werde ich weiterblättern, um etwas Tatsächliches zu erfahren, beispielsweise wo das Uran gefunden wird, oder etwas Vergnügliches, beispielsweise ein neues Abenteuerchen von Adamson. O nein, kein Zweifel, daß die Schriftsteller es ehrlich meinen! Einige sind dabei, die unseren vollen Ernst genießen, nicht minder als Eisenhower, aber in andrer Art; ich finde es auch nicht unrichtig, daß sie wieder einmal einen solchen Aufruf machen, ich finde es sogar löblich, es ehrt sie und ist schön, wie wenn Churchill malt … Und indem ich die Zeitung dem andern überlasse und zu meinem Kaffee übergehe, sage ich vielleicht:
    »Schade, daß die Schriftsteller und Dichter heutzutage so gar keinen Einfluß haben!«
    »Warum?«
    »Frieden oder Untergang«, sage ich: »ganz meine Meinung! Es ist ein fertiger Wahnsinn –«
    »Sicher.«
    Auch er greift zur Tasse.
    »Wenn die Schriftsteller und Dichter einen wirklichen Einfluß hätten«, sage ich: »vielleicht wäre vieles anders in der Welt!«
    Er blättert weiter.
    »Glauben Sie?« sagt er bloß.
    (Er ist vielleicht Arzt oder so.)
    »Als ich noch studiert habe«, fügt er hinzu: »das war vor sechzehn oder siebzehn Jahren, wir hockten in meiner Bude am Radio – vor einer Hitlerwahl – und hörten zwei Stimmen, die ihren Ruhm in die Waagschale warfen: Gerhart Hauptmann und Max Schmeling.«
    »Na und?«
    »Na und –!«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Wenn unsere Dichter keinen ernsthaften Einfluß haben«, sagt er schon mit dem Blick in die Zeitung: »vielleicht ist es schade, ja, vielleicht auch nicht. Unsere Schuld ist es nicht!… auch den Ruhm kann man nur einmal verkaufen – und Einfluß, wirklichen Einfluß, ich glaube halt, Einfluß hat man immer nur dort, wo man etwas von der Sache versteht, wo man der Welt bewiesen hat, daß man etwas von der Sache versteht …«

In der Bahn
    Wie schön, daß man tagelang fahren kann, und das Feld, das vorbeizieht, heißt immer noch Feld, nicht champ, nicht campo – wie schnurrig, daß mir Landschaften, die ich zum erstenmal sehe, vertrauter sind, obschon sie sich von unseren Landschaften gänzlich unterscheiden, vertrauter, nur weil sie eins sind mit meiner Sprache …
    Und die Menschen?
    Man wähnt sich den Menschen, die eine Kiefer auch Kiefer nennen, von vornherein verbunden, genießt eine köstliche Erweiterung der inneren Heimat, und zeigt sich die übliche Fremdheit, empfindet man sie schmerzlicher als anderswo; man haßt auch viel leichter, rascher, wilder als in der sprachfremden Welt.

Berlin, November 1947
    Einfahrt im Morgengrauen. Die Havelseen, die aufgehende Sonne hinter den Kieferstämmen, Wolken, die Brücken knien im Wasser, und die Sonne spiegelt wie Messing darin. Die Dächer sind naß. Zwischen den Stämmen eine wirre Gruppe von zerschossenen Scheinwerfern. Dann die ersten roten Fahnen, grell wie frisches Blut vor dem bleiernen Himmel. Rot als die Farbe der Alarme; man denkt an Schießfahnen und so.
    Lichterfelde.
    Der amerikanische Offizier, den ich in der Bahn zum erstenmal getroffen habe, bittet uns zum Frühstück, das damit endet, daß wir überhaupt seine Gäste bleiben; damit ist die Zimmersorge schon gelöst.
     
    Vormittag am Alexanderplatz. Die jugendlichen Gangster und Dirnen. Es wird viel verhandelt; Dreigroschenoper ohne Songs. Hinter allem wittert man Geheimsprache. Das Unheimliche ist nicht, daß dich jemand überfallen könnte, wenigstens nicht bei Tag; sondern die Gewißheit, daß unsereiner, plötzlich in dieses Leben ausgesetzt, in drei Tagen untergehen würde. Auch dieses Leben, man spürt es genau, hat seine Gesetze; sie kennenzulernen braucht Jahre. Ein Wagen mit Polizisten;

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