Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
plötzlich stiebt alles auseinander, andere bleiben stehen und grinsen, ich schaue zu und habe keine Ahnung, was gespielt wird. Vier Burschen, drei Mädchen werden verladen; sie hocken sich zu den andern, die schon anderswo geschnappt worden sind, gleichgültig, undurchsichtig. Die Polizei hat Helm und Maschinenpistole, alsodie Macht, aber keine Ahnung, hat man das Gefühl. Auch sie nicht! Das Leben in der Tiefe entwickelt ganz andere Formen; ich muß an die Krebse denken, die gefangenen, damals in Portofino …
Später zum Brandenburger Tor.
Gelegentlich stolpert man über die Geleise einer Rollbahn; ich wische die Hosen, horche in die Dämmerung. Stille wie in den Bergen. Nur ohne das Rauschen eines Gletscherbaches. In der Zeitung gibt es eine Spalte für tägliche Überfälle; es kommt vor, daß man eine kleiderlose Leiche findet, und die Mörder stammen regelmäßig aus dem andern Lager. Ganze Quartiere ohne ein einziges Licht. Nicht abzuschätzen ist die Menge von Schutt; doch die Frage, was jemals mit dieser Menge geschehen soll, gewöhnt man sich einfach ab. Ein Hügelland von Backstein, darunter die Verschütteten, darüber die glimmernden Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten.
Abends in die Iphigenie.
»Was sagen Sie zu Berlin?«
Das lobende Wort eines Ausländers steht hoch im Kurs; der Bedarf an Anerkennung ist riesengroß; wer jetzt versichert, Berlin sei ungebrochen in seinem Geistesleben, ist ein bedeutender Kopf …
Das Wetter ist wieder herrlich, Novemberhimmel, die hohe und fast silberne Bläue; es ist schon wahr, daß diese Stadt eine unvergleichliche Luft hat, man ist wacher als anderswo. Sogar nach beinahe schlaflosen Nächten. Es brennen die Sohlen, da ich den ganzen Tag unterwegs bin, aber der Kopf ist wie eine Fackel im Wind. Mittagsrast im Tiergarten. Eine baumlose Steppe mit den bekannten Kurfürsten, umgeben von Schrebergärten. Einzelne Figuren sind armlos, andere mit versplittertem Gesicht. Einer ist offenbar vom Luftdruck gedreht worden und schreitet nun herrisch daneben. Anderswo ist es nur noch ein Sockel mit zwei steinernen Füßen, eine Inschrift; der Rest liegt im wuchernden Unkraut. Außer einem Hund, der mein Picknick riecht, bin ichallein. Im Hintergrund ragt das Denkmal der Roten Armee, das in der Nacht beleuchtet ist.
Viel Gesichter!
Viel Geschichten!
Ich komme nicht zum Aufschreiben, obschon mir fast alles nennenswert scheint; tagelang keine einzige Zeile; ein Urwald von Schicksalen, eine Flut von Eindrücken, alles durcheinander, Widersprüche, es gibt keine Deutung, nur Geschichten, Anblicke, Einzelnes –.
Ausstellung sowjetischer Kultur. Es ist nicht unnötig, daß man die Bilder von Smolensk oder Sebastopol sieht, die Verwüstungen, die der täglich sichtbaren vorangegangen sind. Im übrigen kennt man die Ausstellungen dieser Art, das Unbehagen, gleichviel welche Macht es ist, die sich selber preist. Ich verstehe nicht, warum es solche Retuschen braucht: Rußland besiegt Japan. An der Türe ein kleiner Briefkasten: Was haben Sie von dieser Ausstellung für einen Eindruck? Äußern Sie sich offen und frei! Der kleine Kasten ist leer. Eine gute Stunde lang bin ich der einzige Besucher. Regenwetter; die Räume, glaube ich, sind geheizt. Um nicht im Stimmungshaften zu bleiben, erkundige ich mich nach dem russischen Wohnbau, nicht ohne mich als Schweizer und als Architekt auszuweisen. Ein freundlicher Offizier, Hauptmann ohne Uniform, führt mich in die Bibliothek. Bild eines klassizistischen Palastes mit dreistöckigen Säulen.
»Vor allem möchte ich Wohnbau sehen«, sage ich: »Siedlungen für Arbeiter und so.«
»Hier wohnen Arbeiter.«
»Hinter diesen großartigen Säulen?«
»O ja.«
Meine Miene, meine etwas sprachlose Verwunderung, da wir unter Architektur etwas so anderes verstehen, wird offensichtlich als Zweifel gedeutet, als Mißtrauen beantwortet:
»O ja, hier wohnen Arbeiter.«
»Wieso denn solche – solche Säulen?«
»Das ist die Hauptstraße in Moskau.«
Mit der Zeit, und da es mich ernsthaft interessiert, kommen wir, viele Bücher blätternd, dem Gegenstand doch näher; mein Interesse: ob die Grundrisse, Chiffren einer Lebenshaltung, sich wesentlich von den kleinbürgerlichen Grundrissen unsrer Siedlungen unterscheiden und wie? Bild eines kleinen Eigenheims: mit zwei kleinen Säulen.
»Das ist auf dem Land?« frage ich.
»O ja.«
»Aber nicht als Siedlung, ich meine, das ist wohl eher ein Einzelhaus«, sage
Weitere Kostenlose Bücher