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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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kupfernes Haar ich nicht als erster mit einem Botticelli vergleiche, versichert uns, daß sie niemals vergewaltigt worden sei –.

Prag, Januar 1948
    Wiedersehen mit Freunden, Wiedersehen mit der tschechischen Aufführung. Die Lage ist sehr verschärft. Noch streiten sie zusammen auf den letzten Brücken persönlicher Freundschaft. Dieöffentliche Diskussion von damals wäre kaum mehr möglich. Offenheit in einem Kabarett: Voscovic und Werich, die schon einmal in die Emigration gegangen sind, damals als Kommunisten. Leider verstehe ich nur das Optische, der Wortwitz wird mir später übersetzt. Neben uns ein Offizier, der herzhaft herausbrüllt vor Lachen; dann aber, da ich (der Sprache wegen) nicht lachen kann, verstummt er, rückt auf seinem Sessel hin und her, mustert mich heimlich von der Seite …
    Am andern Tag, ich verstehe erst später den Sinn dieser Nötigung, die uns gar nicht in den Kram paßt, fahren wir nach Brünn. Eine herrliche Fahrt durch böhmische Dörfer, die unsere Redensart natürlich widerlegen; musterhaft in der Einheit ihres Stils, dann die mährischen Dörfer, hin und wieder ein Städtlein mit einem schmucken Marktplatz, dann wieder die Weite, unabsehbar, Schnee in den Furchen, Wintersonne, Horizonte voll schwarzem Wald, Tannen. Die Aufführung in Brünn, die wir gerade noch erreichen, ist übergeschnappte Provinz, dilettantisch, aber sehr interessant: die Figuren reden Text, den ich nie geschrieben habe, und wo ich weiß, daß sie Text haben, machen sie es kurz oder schweigen einfach, damit das Stück durch den neuen Text nicht allzu lang wird. An entscheidenden Stellen, wie ich später erfahre, sagen sie ziemlich das Gegenteil. Das Publikum, es handelt sich um die wöchentliche Aufführung für die Garnison, verhält sich wie in einer Unterrichtsstunde. Die Zeitungen, die mit dem erteilten Unterricht zufrieden sind, melden die persönliche Anwesenheit des Verfassers – womit ich gemeint bin.

Beim Lesen
    Carlo Levi, ein italienischer Maler, von den Faschisten für viele Jahre verbannt, schreibt das Buch seiner Verbannung, Schilderung einer wüstenhaften Gegend, einer fast heidnischen Hinterwelt, die eigentlich niemand kennt, auch die Italiener nicht; das Buch, anständig geschrieben, nicht außerordentlich, wird zum außerordentlichen Erfolg in Italien und darüber hinaus –
    Warum?
    Vermutlich aus dem gleichen Grund, warum Europa, das heutige, keine epische Dichtung mehr hat, wie die Amerikaner sie haben, wie die Russen sie haben könnten.
     
    Räume unbekannten Lebens, unerfahrene Räume, Welt, die noch nicht geschildert worden ist, nennenswert als Fakt, das ist der Raum der Epik. Europa hat sich in allen landschaftlichen, in allen historischen, aber auch in fast allen gesellschaftlichen Räumen schon oft genug, meisterhaft genug, mehr als genug geschildert; die epische Eroberung, die die Dichtung junger Völker beherrscht, ist so weit noch möglich, wie es etwa in der Schweiz noch einzelne unbestiegene Nebengipfel geben mag; eine ganze Welt aber, eine entscheidend andere, eine Terra incognita, die unser Weltbild wesentlich verändern könnte, haben unsere Epiker nicht mehr abzugeben.
     
    Episch ist die Schilderung, die Mitteilung, nicht die Auseinandersetzung – die Auseinandersetzung mit einer Welt, die nur insofern geschildert wird, als sie zur Auseinandersetzung unerläßlich ist, erfüllt sich im Drama, dort am lautersten; der Roman, der sich auseinandersetzt, ist schon eine epische Spätlese: – die kostümierte Essayistik bei Thomas Mann.
     
    Schilderung – muß aber nicht die Schilderung einer vorhandenen Welt sein; es kann auch eine entworfene Welt sein. Im Anfang ist es das immer; die Sage. Und am Ende, gleichsam als letzte epische Chance, steht die Phantastik.
    (Homer, Balzac, Kafka.)
    Hinter der homerischen Lust, zu schildern, steht das schöpferische Bedürfnis, sich eine Welt zu geben. Die Epik, die homerische, als Mutter unsrer Welten: erst dadurch, daß eine Welt erzählt wird, ist sie da. Und erst wenn sie da ist, kann sie erobert werden, wie es heute noch die amerikanische Epik tut. Und erst wenn sie erobert ist, kann die Auseinandersetzung mit ihr beginnen –.
    (Was mich an der amerikanischen Epik am meisten erregt: das Hinnehmende, die urteilfreie Neugierde, das aufregende Ausbleiben der Reflexion.)
     
    Terra incognita – wenn es stimmt, daß dies der Raum der echten Epik ist, ließe sich ja denken, daß das Neue an unsrer Gegenwart, das Nie-Gewesene

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