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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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so kindisch, daß der Hohn des ungläubigen Orestesin sich selber zusammenfällt. Die Szene ist in ihrem Rückgrat gebrochen – trotz guter Schauspieler –, gebrochen durch einen Einfall, der die Grenze des Theaters verkennt.
    Spielplatz ist immer die menschliche Seele! Ihren Gesetzen ist alles unterworfen. Eines dieser Gesetze: Kompensation. Wenn ich einen Kerker wahrnehme, findet mich das Wort, das eine freie und heitere Landschaft schildert, besonders empfänglich; der Anblick einer grottenhäuslichen Kalypso, die mich halten will, macht mich besonders empfänglich für jedes Wörtlein, das von offenem Meer und fremden Küsten redet; die Imagination, die es verlangt, entspricht ja meiner Sehnsucht. Oder wenn ich ein fröhliches und übermütiges Fest wahrnehme, hat eine Stimme, die den Tod erwähnt, besondere Macht; die Imagination, die sie verlangt, entspricht ja meiner Angst. Der theatralische Bezug – das Widerspiel von Wahrnehmung und Imagination – wird besonders zwingend sein, besonders ergiebig, besonders zuverlässig, wenn er den Bedürfnissen der menschlichen Seele folgt, wenn er beispielsweise aus einer Kompensation besteht.
     
    Verlockung des Theaters auch für den nicht-dramatischen Dichter, etwa den lyrischen: die Bühne liefert ihm, wenn er sie beherrscht, eine steigernde Folie für das Wort.
     
    Kein Stück wird immerfort theatralisch sein. Wichtig für seine theatralische Potenz ist nicht einmal, ob es in seinem Verlaufe oft theatralisch ist. Die theatralische Erfüllung, glaube ich, ist immer das Seltene, das Rare, das Auge in der Fläche eines Gesichtes. Entscheidend dürfte sein, ob die wesentlichen oder nur die nebensächlichen Aussagen theatralisch werden. Im letzteren Fall, wo das Theatralische zufällig, nebensächlich, exzentrisch bleibt, wird jede Aufführung, selbst die vollendete, unweigerlich eine Verzerrung bedeuten, eine fälschende Verschiebung der Akzente. Das Theater, sagt dann der Verfasser, ist halt eine schauerliche Vergröberung! Natürlich ist es das, aber es ist nicht die Schuld des Theaters, wenn solche Vergröberung, die einenShakespeare nie umbringt, mehr als Vergröberung wird, nämlich Entstellung, Verzerrung, Verdrehung, Zerstörung jeder Poesie. Es ist nicht die Schuld des Theaters, wenn der Dichter es nicht brauchen kann. Wer auf die Bühne tritt und die Bühne nicht braucht, hat sie gegen sich. Brauchen würde heißen: nicht auf   der Bühne dichten, sondern mit der Bühne –.

Berlin, April 1948
    Die Russen, heißt es, haben die Zonengrenze gesperrt. Ein deutscher Herr, der eben von Helmstedt kommt, berichtet wieder anders, die Wagen werden strengstens untersucht, sagt er, können aber passieren. Hingegen stimmt die Meldung, daß seit gestern keine Züge mehr verkehren. Die russische Forderung, daß auch die amerikanischen Züge sich einer russischen Durchsuchung unterziehen müßten, wird abgelehnt. Vorläufig durch Einstellung des Verkehrs. Damit ist jede Zufuhr unterbunden, Berlin als belagerte Stadt. Man stellt alle erreichbaren Sender ein, um Nachrichten zu sammeln, die sich teilweise mit den Gerüchten decken; nur tönt es als Nachricht immer viel gediegener.
     
    Anruf bei Freunden; obschon sie im Haus der Auslandspresse wohnen, wissen sie nicht mehr: Blockade, um die Westmächte auszutreiben – mit dem Hunger der Berliner.
     
    Abends in Gesellschaft.
    Das Berlinische, das man bei uns so gerne verpönt, ich mag es sehr – vor allem das Unsentimentale, den Witz, der meistens darin besteht, daß man die Dinge wieder einmal beim Namen nennt, das Antipathos, besonders willkommen innerhalb des Deutschen, hier wird das Gemüt nicht aufs Brot gestrichen, Witz als der keuschere Ausdruck der Gefühle, das Freche ohne Ranküne, das Nüchterne – in Zeiten wie jetzt, wo jede Pose auf die Probe gestellt wird, sind sie bewundernswert, nämlich unverändert: unsentimental, konkret, aktiv …
    Mit Landsleuten und einem britischen Journalisten, der einen deutschen Volkswagen besitzt, hinaus an den Wannsee. Sonnenuntergang über den Wäldern. Abendessen in einem Hotel der Journalisten. Wenn man Berlin zur Zeit mit Schanghai vergleicht, meint man wohl auch dieses rätselhaft beziehungslose Nebeneinander: gesellschaftliches Leben in Kolonien, sie wissen, daß sie in Berlin sind, aber die Berliner sind etwas wie Eingeborene. Man sitzt, mit verschränkten Beinen, trinkt Whisky, unten wartet »der deutsche Fahrer«. Gewiß, es gibt Berührungen durch alltäglichen

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