Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Verkehr, Gespräche über die Unruhe unter den Eingeborenen oder über ihre flotte Haltung; kein Haß, ein gelegentliches Unbehagen, daß die Eingeborenen immer wieder meinen, alles drehe sich um sie, auch kein Hochmut, keine Absicht, die Eingeborenen mehr auszunützen als sonst die Mitmenschen, London, Prag, Chicago, Paris, alles ist näher als Berlin, alle sitzen wie auf Vorposten, denken viel an zu Hause, besuchen sich und stehen umher, jeder ein Glas in der Hand, jeder wahrt seine Stammessitten und beobachtet die Luft – das ist es, warum sie da sein müssen: die Luft, das Unsichtbare in der Luft … die Welt.
Zur Schriftstellerei
Fabeln, scheint es, gibt es zu Tausenden, jeder Bekannte wüßte eine, Unbekannte verschenken sie in einem Brief, jede ist ein Stück, ein Roman, ein Film, eine Kurzgeschichte, je nach der Hand, die sie zu greifen vermöchte – es fragt sich bloß, wie und an welchen Zipfeln sie ergriffen wird; welche ihrer zahlreichen Situationen sich kristallisiert … Hamlet! wenn es möglich wäre, seine Fabel ohne jede Gestaltung vorzulegen, kein noch so hellhöriger Kritiker könnte finden, daß sie nach dem Theater schreie. So vieles daran läßt sich nur erzählen; das Spielbare zu finden braucht es die Wünschelrute eines theatralischen Temperamentes, hier eines theatralischen Genies. Etwas verdreht gesprochen! denn der Vorgang ist ja wohl nicht so, daß einschöpferisches Temperament, ein theatralisches, oder ein anderes, an eine sogenannte Fabel herantritt, erwägend, ob sie sich für Theater oder Roman eigne, sondern das Temperament ist bereits die Entscheidung, der Maler sieht malerisch, der Plastiker sieht plastisch … Der meistens verfehlte Versuch, ein Schauspiel umzusetzen in eine Erzählung oder umgekehrt, lehrt wohl am krassesten, was man im Grunde zwar weiß: daß eine Fabel an sich gar nicht existiert! Existenz hat sie allein in ihren Niederschlägen, man kann sie nicht destillieren, es gibt sie nur in Kristallisationen, die, einmal vorhanden, nicht mehr auszuwechseln sind, gelungen oder mißlungen – ein für allemal.
Berlin, Mai 1948
Halle in Tempelhof. Die Maschine steht bereit. Von Berlin nach New York; aber die meisten von uns wollen nur nach Frankfurt. Die Kontrolle war peinlich, als wäre man ein Überläufer oder ein Spion, leider noch nicht faßbar, obschon es für den Mann, der wortlos meine Papiere prüfte, zweifellos schien, daß ich für Wallstreet arbeite. Was sollte ich sonst tun? Durch das Telefon verabschiede ich mich nochmals von den Freunden. Herrliches Wetter. Auf dem Tempelhofer Feld wimmelt es von glitzernden Transportern –.
»Luftbrücke«.
Letzigraben
Imbiß in der Kantine, Rippli und Wein, dazu ein besonders köstliches Brot – Gespräch mit einem verbitterten Eisenleger, der im Stundenlohn alle andern übertrifft, er schimpft über seinen Stundenlohn, aber im Grunde ist es nicht das; seine Arbeit, die ich oft genug verfolgt habe, ist wirklich von jener Art, die an Galeere erinnert und immer eine peinliche Empfindung erzeugt: man ist froh, daß man selber nicht dazu verdammt ist, froh umdie Kunde, daß die Eisenleger einen guten Stundenlohn haben und also zufrieden sein sollen. Dagegen wirken die Gärtner wie spielende Kinder, selbst wenn sie mit violetten Händen schwere Platten tragen. Überhaupt die merklichen Unterschiede je nach Arbeitsart! Eigentlich bin ich nie mit einem Erdarbeiter ins Gespräch gekommen, obschon sie fast ein Jahr lang auf dem Platz gewesen sind; eine spürbare Kluft: sie waten mit lehmigen Stiefeln in einem Graben, ich stehe oben mit Ledermappe, ich zeichne, und sie haben den Dreck. Nicht einmal das Skelett eines Hingerichteten, das eines Tages zum Vorschein kam, hat uns ins Gespräch gebracht. Anders schon die Maurer; ihre Arbeit fordert nicht Kraft allein, sondern Geschick, es gibt schlechtes und sauberes Mauerwerk, Könner und Pfuscher; wer den Unterschied sieht, ist wert befunden, daß sie mit ihm reden. Überall die aufblühende Selbstachtung, sobald die Arbeit einen persönlichen Spielraum gewährt; am meisten bei den Gärtnern, die immer wieder mit Vorschlägen kommen, was ihnen noch besser gefiele; aber auch der Vorarbeiter, der jetzt den zehn Meter hohen Sprungturm schalt, ist emsig-selig. Arbeit als Fron oder Arbeit als Selbstverwirklichung. Ich bin mir im klaren, daß der Bau zu den freundlichsten Arbeitsstätten gehört, die unser Zeitalter zu vergeben hat; nicht zu vergleichen mit der Fabrik. Als Inbegriff
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