Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Gelächter, das eher behaglich tönt. Vom Leiter der Schule aufgefordert, vielleicht auch ein Wort zu sagen, versuche ich zu sagen, wie Brecht sich Literatur im Klassenkampf vorgestellt hat. Sie wissen von Brecht, daß er ein Weißer ist. Auch die Zustimmung, daß l'art pour l'art immer die Kunst der herrschenden Klasse ist, bringt es nicht zustande, daß sie den Sprechenden je anblicken. Sie sind keine Linken; sie sagen: Auch ein schwarzer Millionär ist einer von uns. Einige sagen übrigens gar nichts; Statisten der Arroganz. Wie weiter? Wie sie nach langem Hin und Her zugeben, hat die Lehrerin nie gesagt, es gebe keine schwarze Literatur; trotzdem bleibt der Tatbestand, daß sie sich gedemütigt fühlen. Kritik an ihren Texten sei nur zum Schein literarisch, im Grund aber rassistisch. Forderung nach schwarzen Lehrern. Nur gibt es sie zurzeit nicht. Dann wieder Hohn über die weißen Kollegen, deren Problem nur die Literatur selbst ist: »your short stories about nothing«. Die Rechtfertigung des jungen Weißen, daß auch er (sofern die schwarzen Kollegen ihn ausreden lassen) – daß auch er einen Konflikt darzustellen versucht habe, nur nicht gerade den Rassen-Konflikt, erzeugt ein kollektives Ausatmen stummen Hohnes: Das ist es ja! Jetzt dreht es sich nur noch im Kreis. Die bedrängte Lehrerin verteidigt sich unerheblich, erstens: daß sie sich keiner demütigenden Bemerkung bewußt sei; zweitens: daß sie einen weißen Studenten mit den gleichen Worten auf den gleichen Kunstfehler aufmerksam gemacht habe; drittens: daß sie das Mädchen, das gescheite, sehr gelobt habe. Das Mädchen: Haben die Weißen darüber zu befinden, was uns verletzt, was nicht? Auch das Lob, das sie bekommen hat, ist rassistisch: man ging nämlich nicht auf die Erfahrung der Schwarzen ein, sondern lobtebloß literarisch. Und dann macht sie die Handbewegung der Lehrerin nach: eine weiße Handbewegung. Ihre Rassengenossen lachen wie die Kinder. Warum sie trotzdem diese Schule besuchen, erfahre ich nicht. Übrigens sprechen sie selber von Paranoia; da arbeitet jemand, ein Schwarzer, an seinem ersten Roman, und dann geschieht etwas auf der Straße (YOU KNOW), tagelang kann er nicht weiterarbeiten an seinem Roman, wie gelähmt … Zum Schluß verbröckelt die Zusammenkunft; die Weißen stehen ratlos; das scheint den schwarzen Studenten für heute zu genügen.
P. S.
Wochen später Party bei Frank MacShane; der schwarze Lehrer ist auch dabei, ein handgroßes Afrika-Emblem auf der Brust. Was er von jenem Treffen denke? Seine Schadenfreude, daß ich den Weißen wenig nützlich war –
23. 4. 71
Junge Männer mit und ohne Bart, Vietnam-Veteranen, warfen ihre Medaillen auf die Treppe des Capitols in Washington; jeder einzelne meldet seine Dienstzeit, seinen Namen, dann reißt er sich die Auszeichnung vom Hals und spricht einen Fluch oder nichts.
24. 4. 71
Aufmarsch der Kriegsgegner in Washington; man schätzt 300.000. Hauptsächlich Leute zwischen zwanzig und dreißig. Zwischen den Reden ein Song von Pete Seeger: THE LAST TRAIN TO NUREMBURG. Massentreffen ohne Schlägerei, ohne Zerstörungen. Die Reden sind einhellig Protest gegen den schmutzigen Krieg, gegen die Verarmung der Armen durch den Krieg, gegen Ungerechtigkeit. Attacken gegen Nixon und Agnew und FBI-Hoover, aber Glaube an die amerikanischeDemokratie, ALL POWER TO THE PEOPLE, Hoffnung ohne politische Doktrin; der Tenor bleibt moralisch, und die Menge harrt aus, brüllt nicht, manchmal hebt sie wieder die Hände mit dem Friedenszeichen, dazwischen vereinzelte Fäuste, PEACE NOW, Forderungen werden freundlich beklatscht. Es sprechen die Witwe von Martin Luther King, sein Nachfolger, die Mutter von Angela Davis, ein weißer Senator, Studenten. Die Gesichter aus der Menge, die das Fernsehen zeigt, sind brav und ordentlich, naiv. Keine revolutionäre Menge, nein, das ist es nicht; es tönt eher wie in einer Sekte: BROTHERS AND SISTERS, ernst angesichts von Kriegsverbrechen und Luftverschmutzung, alles in allem rührend. Ohne radikale Kritik am System. Präsident Nixon weilt in seinem Landhaus weit weg; kein Vertreter der Administration stellt sich einer Gruppe von Kriegskrüppeln aus allen Teilen des großen Landes.
Statik
Eines Morgens, kurz nach acht Uhr, meldet er sich an irgendeinem Schalter. Ein Gendarm unten beim Eingang hat ihn nicht beraten können. Als er, lange schon mit dem Hut in der Hand, endlich an die Reihe kommt und sich in den Schalter beugt, um zu
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