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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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dann ist sein diesbezügliches Unwissen registriert, und er vergißt nichts, wovon er nichts weiß.
     
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    Er lehnt es ab, Dekan zu werden.
     
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    Sein Gedächtnis läßt nicht nach, im Gegenteil, sein Gedächtnis richtet sich gegen ihn – er erinnert sich plötzlich, daß er eigentlich seiner Schwester in Schottland noch immer ihren Anteil an der Erbschaft schuldet. Eine komplizierte Geschichte, aber was ihm einfällt: 80 000 Franken. Plus Zinsen. Oder es fällt ihm ein: ein Fremdwort, das er im Augenblick nicht braucht; es fällt ihm nur ein, daß er jedesmal nicht weiß, was es heißt.
     
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    Meistens hängt dann der verlorene Hut in seinem Vorzimmer. Einmal wundert sich ein Student, der dem Professor den Mantel hält und dann auf den Hut verweist: der Professor behauptet, es sei nicht sein Hut. Er geht ohne.
     
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    Die Studenten mögen ihn.
     
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    Nicht nur liegen auf seinem Tisch die gelben Bleistifte alle gespitzt nebeneinander, alles ist so. Er fürchtet sich vor Unordnung. Er gehört zu den Menschen, die immer schmutzige Fingernägel haben und nichts dagegen machen können.
     
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    Im Kommissariat, als nach einer Stunde ein jüngerer Gendarm ihn fragt, was er wünsche, bleibt er sitzen auf der gelbenBank: wie jemand, der nicht weiß, wieso er an diesem Ort erwacht –
     
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    Nur sein Gesicht ist eingestürzt.
     
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    Seine Frau, die ihn seit 19 Jahren verehrt, leidet weniger unter seinem Unwissen als unter seinem Tick, daß er's jedesmal meint melden zu müssen. Manchmal legt sie schon vorher ihre Hand auf seinen Arm, um ihn wenigstens vor Leuten abzuhalten von seinem Satz: Das weiß ich nicht! Sie tut es ohne Erfolg; vielmehr erschrickt er schon über ihre freundliche Hand, als habe sie ihn aufmerksam machen wollen: Das weißt du nicht! und er bestätigt: Das weiß ich nicht!
     
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    Es sind Lappalien, die ihm einfallen vor allem gegen Morgen, wenn es draußen noch finster ist. Dann geht er barfuß in die Küche, um irgend etwas zu verspeisen, Käse, Kompott, notfalls kalte Spaghetti. Es hilft wenig, wenn Vorkommnisse, die sein Gedächtnis plötzlich freigibt, als komisch zu bezeichnen sind. Er erschrickt trotzdem. Oft kommt es dadurch, daß er erschrickt, zu ganzen Serien … Daß er dem Friedhofamt auf die Mitteilung, das Grab seiner Mutter werde demnächst aufgehoben, nicht geantwortet hat, ist ein Versäumnis, das ihm nicht zum ersten Mal einfällt; statt sich aber hinzusetzen und sofort zu schreiben, daß er selbstverständlich für eine Urne aufkomme, erinnert er sich, daß er damals, 1940, eigentlich richtig gehandelt hat, einem Major gegenüber sogar mutig.Sein Gedächtnis gibt plötzlich (während er barfuß in der Küche steht) den ganzen Wortwechsel heraus, und was er diesem Major gesagt hat: lauter Schwachsinn. Manchmal fällt ihm auch nur ein Gefühl ein, das man in seinem Lebensalter nicht mehr hat, oder ein Geruch.
     
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    Eines Tages stellt er sein Rücktrittsgesuch –
     
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    Es fällt ihm ein: ein gestohlener Fußball. Es fällt ihm ein: das sogenannte Doktor-Spiel im Keller, Homosexualität, die Angst hinterher, und wie dann der Detektiv in den Keller kommt, da er's der Mutter gesagt hat, sein Verrat an dem jungen Gärtner. Es fällt ihm ein: daß er von dem jungen Gärtner ein Taschengeld bezogen hat. Es fällt ihm ein: daß er im Gymnasium durchgefallen ist.
     
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    Später hört sein Tick wieder auf – er senkt nur sofort den Kopf, wenn er etwas nicht weiß, und hört zu. Vögel haben zuweilen diese schiefe Haltung des Kopfes, dann hat man keine Ahnung, wohin sie blicken. Er sagt fast nie: Das weiß ich nicht! sondern schweigt nur mit dieser schiefen Haltung des Kopfes –
     
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    Aber von alledem kann er nicht reden, oder wenn er zu reden versucht, so ist es sofort mißverständlich; man kann ihm sofortbelegen, daß er ein ordentlicher Professor ist, kein Schwindler, ein Vater zumindest guten Willens, kein Antisemit, als Kollege geschätzt für seine bescheidene Art. Auch ist er (um Gottes willen) kein Mörder usw. Er widerspricht dann nicht und nickt auch nicht, sondern blickt vor sich hin. Sie meinen es moralisch. Er ist trotzdem bestürzt –
     
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    Sein Rücktrittsgesuch wird nicht angenommen, da er es nicht hat begründen können; er ist gesund; der Hochschulrat bewilligt ihm eine Sekretärin.
     
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    Er begreift nur, daß es unaufhaltsam ist.
     
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