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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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auf den heimlichen Gedanken bringen, Sie hätten sich für eine andere Heimat besser geeignet?
     
    17.
    Was macht Sie heimatlos:
a.
Arbeitslosigkeit?
b.
Vertreibung aus politischen Gründen?
c.
Karriere in der Fremde?
d.
daß Sie in zunehmendem Grad anders denken als die Menschen, die den gleichen Bezirk als Heimat bezeichnen wie Sie und ihn beherrschen?
e.
ein Fahneneid, der mißbraucht wird?
     
    18.
    Haben Sie eine zweite Heimat? Und wenn ja:
     
    19.
    Können Sie sich eine dritte und vierte Heimat vorstellen oder bleibt es dann wieder bei der ersten?
     
    20.
    Kann Ideologie zu einer Heimat werden?
     
    21.
    Gibt es Orte, wo Sie das Entsetzen packt bei der Vorstellung, daß es für Sie die Heimat wäre, z. B. Harlem, und beschäftigt es Sie, was das bedeuten würde, oder danken Sie dann Gott?
     
    22.
    Empfinden Sie die Erde überhaupt als heimatlich?
     
    23.
    Auch Soldaten auf fremdem Territorium fallen bekanntlich für die Heimat: wer bestimmt, was Sie der Heimat schulden?
     
    24.
    Können Sie sich überhaupt ohne Heimat denken?
     
    25.
    Woraus schließen Sie, daß Tiere wie Gazellen, Nilpferde, Bären, Pinguine, Tiger, Schimpansen usw., die hinter Gittern oder in Gehegen aufwachsen, den Zoo nicht als Heimat empfinden?
     
     
    Zum zweiten Mal hört man von einem intellektuellen Amerikaner: die einzige Chance für ihre Nation, daß sie sich finde, sei die militärische Niederlage in Indochina, kein diplomatisches Arrangement, sondern die evidente Niederlage.
     
    Dichter aus Chile, bislang Diplomat, aber unter der linken Regierung von Allende nicht mehr tragbar, sucht ein Haus im Tessin, Schweiz, bis wieder bessere Zeiten kommen, oder bei Salzburg –
     
    Ein junger amerikanischer Schriftsteller, Sohn aus reichem Haus, Navy-Lieutenant in Vietnam, wünscht Rat, ob Irland oder Provence oder Sizilien; er muß weg. Als er aus Vietnam zurückkam, machte er ein Vermögen im stock market. Kein Kunststück, sagt er, wenn man die Einlage hat. Er erzählt nicht, was er in Vietnam gesehen hat; nur dies: die Offiziere haben nicht mehr zu ihm gesprochen, auch die Mannschaft nicht, nachdem er, in einem humanistischen Elite-College erzogen, nicht hat fassen können, was dort erlaubt ist. Darüber also will er schreiben; nicht über die Vorkommnisse, die als Krieg bezeichnet werden und bekannt sind, sondern über seinen Schock. Hier, so meint er, verliert man auch noch den Schock; er möchte unter fremde Leute, die es nicht glauben (wie er es nicht glaubte) oder denen es wenigstens nicht selbstverständlich ist.
     
    WASHINGTON SQUARE, das erste Grün an den Bäumen, man hat es ihrem grauen Skelett nicht mehr zugetraut. Frühling, ja, du bist's … Gestern sah ich nur Zerfall, Aussatz, lauter Gesichter mit kranker Haut, Gesichter von jungen Leuten, die Stadt eine einzige und gigantische Schwäre – es stimmt nie, was ich denke, nie länger als einige Stunden oder höchstens einen Tag lang. Heute zum Beispiel: dieser Morgen in diesem schütteren Park vor diesen zierlichen Fassaden, wo Patricia wohnt, und dieses Licht, diese Leichte der Wolkenkratzer im blauen Dunst, vorher die Liebenswürdigkeit beim Drugstore-Frühstück, heute schwänze ich, froh, daß wir hier sind. Hier sitzen und lesen auf einer öffentlichen Bank; ein Alter spaziert, bleibt stehen und spricht mich an, um seine Pfeife mit meiner zu vergleichen, dann tauschen wir Tabak. Einige jüngere Schwarze lungern an der Sonne. Lungern sie? Es ist ungewiß, ob irgend etwas los ist. Einer setzt sich neben mich, nahe wie in einem Bus, obschondie Bank leer und lang ist. Zigaretten habe ich leider nicht. Er bleibt aber, holt eine zerknüllte Zigarette aus seiner Tasche, wortlos. Feuer habe ich. Unter seiner scheckigen Joppe: ein Foto-Apparat erster Klasse mit Tele-Objektiv. Was will er? Ein Mädchen führt seinen Hund aus, ein Edeltier, das Mädchen von letztem Schick, blond mit violetter Sonnenbrille. Jetzt ist er aufgestanden, der Schwarze neben mir, schlendert rechts um den Brunnen, so daß das Mädchen auf ihn zukommen wird. Was will er? Aber er irrt sich; der Hund will jetzt einen andern Weg, und die Einkreisung mißlingt unauffällig. Keine Polizei. Das Mädchen beschleunigt übrigens die Schritte nicht, bleibt sogar stehen, wo der Hund einmal schnuppert, und jetzt stehen die andern ebenfalls falsch im Park; sie müßten laufen, um dem damenhaften Mädchen noch in den Weg zu treten, bevor es durch den Torbogen entschwindet. Ich gehe auch; vielleicht ist mein

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