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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Buchladen jetzt offen. Hier, in der 8. Straße, wieder eine Halbwüchsige mit kranker Haut, die bettelt: nicht aus Hunger. Marihuana tät's auch. Sie blickt verschwommen: YOU KNOW, DON'T YOU. In einem Schaufenster (unter anderem) die Vagina-Vibratoren aus Plastik mit elektrischer Batterie.
     
    Abend bei einem Studentenpaar. Er, der Gedichte schreibt, arbeitet tagsüber in Brooklyn: Kampf dem Analphabetismus. Gibt es das? Immer mehr, sagt er, heute 7%. Hauptsächlich Puertoricaner, Staatsbürger der USA, Muttersprache zu Hause spanisch; die Lehrer verstehen aber nur englisch. Nachher können sie weder lesen noch schreiben. NO EXIT, WALK, STOP, BUS, NO ENTRANCE, CLOSED usw., sie wissen natürlich aus Erfahrung, was diese Schilderbedeuten, aber buchstäblich können sie nichts lesen, Leute von 20 und 30 Jahren. Was bleibt ihnen als Arbeit? Sie können gerade das Schriftbild ihres eigenen Namens nachzeichnen. Um ihre Intelligenz zu testen, gibt er ihnen beispielsweise eine Kamera; das Ergebnis sei oft erstaunlich: was sie sehen, wie sie sehen. Aber von Jahr zu Jahr, wie gesagt, gibt es mehr Analphabeten in Greater New York.
     
    6. 4. 71. Dinner mit Jorge Luis Borges. Der Dichter ist 72 und blind, monologisch; wenn die andern am Tisch sprechen, sieht er ja nicht, wer jetzt zu ihm spricht, und so ist es ihm wohler, wenn er wieder selber spricht. Dann und wann fragt er höflich, wer jemand sei, sein offenes Auge ins Leere gerichtet. Sein großes Wissen. Grandseigneur. Er trägt seinen Ruhm wie einen Ruhm von Geburt, unbeflissen und selbstverständlich. Die Tischnachbarin zeigt ihm, welches Glas mit Wasser gefüllt ist, welches mit Wein; dann macht er's mit dem Gedächtnis. Als es auskommt, daß ich Schweizer bin, weiß er sogar Mundartliches: »Das isch truurig.« Überhaupt ein manischer Linguist. Er hat Gottfried Keller im Original gelesen. Er schätzt (indem er mich anzublicken meint) mein Land: Gstaad, Wengen, Grindelwald, was alles ich nicht kenne. Aber eigentlich spricht er ausschließlich über Literatur in einem sehr guten Englisch.

School of the Arts
    Die schwarzen Studenten fühlen sich in der Klasse unverstanden und ungerecht kritisiert von den weißen Lehrern und Schülern. Zusammenkunft in einem überheizten Saal. Schonvor der Aussprache trennen sich die Schwarzen demonstrativ von den Weißen. Der Leiter der Schule, Frank MacShane, muß bitten, die Sessel näher zu rücken, damit sich ein Kreis bildet. Es sind nur 6 schwarze Studenten da; sie entschuldigen die Säumigen mit dem Vorwurf, man habe eine unmögliche Zeit gewählt. Ein anderes Datum, das allen schwarzen Klägern passen würde, ist nicht auszumachen. Was ist vorgefallen? Sie kichern, die schwarzen Studenten, und geben einander Blicke der Einigkeit, daß schon die Frage lächerlich ist. Die Lehrerin, eine gebürtige Jüdin aus Wien, könne ihre literarischen Arbeiten nicht beurteilen, weil sie keine Schwarze ist. Ich habe früher eine Klasse besucht: die eingereichten Texte waren konventionell, nicht ungeschickt, die literarische Kritik äußerst zurückhaltend. Wortführer der schwarzen Studenten ist vorerst ein schwarzer Lehrer, Schriftsteller ohne Erfolg; seine These: Alle Kunst ist Propaganda, alle Propaganda ist Kunst. Was die Weißen nicht verstehen können. Eine gescheite und (wie ich von der Lehrerin höre) sehr begabte schwarze Schülerin gibt jetzt Beispiele: ihre Arbeit wurde gelobt – sie lacht; gelobt! – wogegen die Arbeiten ihrer Rassengenossen oft kritisiert werden. Was ist literarische Qualität? Ein weißer Begriff. Der Einwand, daß es objektiv-literarische Kriterien gebe, löst wie jeder Einwand nur ein dünnes Kichern aus, Kichern mit kaltem Blick an den Partnern vorbei. Auch wenn sie sprechen, blicken sie die Weißen nicht an. Shakespeare ist ein Rassist, ein Weißer, untauglich für sie. Die Bemerkung eines weißen Schülers, schließlich gehe es doch um Sprache, nicht um das Inhaltliche, bringt Sturm. Als die Lehrerin wenigstens um Vertrauen in ihren guten Willen bittet, ist das Gelächter offen. Jetzt wird die Aussprache unverblümt, aber unverblümt nur von der Seite der schwarzen Studenten. Jeder Weiße kann sagen, was er will; er ist ein Nachfahre der Sklavenhalter. Immer wieder: Ein Weißer kann einen Schwarzen nicht kritisieren,denn wir stammen aus einem Erdteil, wo der weiße Mann nie gelebt hat. Was sie in der Klasse also tun soll, fragt die Lehrerin; Antwort: »We don't have to solve your problem!« mit einem

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