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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Vorfahrt hatte, also keine Schuld.
     
    . . .
     
    Später wird er Oberarzt.
     
    . . .
     
    Ein Jahrzehnt lang spricht er nie von dem Unglück bei Montpellier; er weiß nicht, wie es dazu gekommen ist.
     
    . . .
     
    Einige Bekannte wissen es ungefähr.
     
    . . .
     
    Er wird Chef einer Klinik, Vater von zwei Kindern, reist viel, aber nie nach Spanien.
     
    . . .
     
    Ein Arzt, der am Vorabend einer Operation von sich selber erzählt, ist eine Zumutung, das weiß er; trotzdem erwähnt er plötzlich seinen Unfall bei Montpellier in Frankreich: – Ich hatte Vorfahrt, wie gesagt, insofern keinerlei Schuld … Nachher sagt er: Wie sind wir eigentlich auf diesen Unfall gekommen? Der Patient weiß es auch nicht. Warum sagt er nicht einfach Gutnacht, das Übliche: Sie werden schlafen, sonst klingeln Sie der Nachtschwester. Aber das hat er schon vorher gesagt. Dann hat er eines der Bücher vom Nachttisch genommen, ohne mehr als den Titel zu lesen. Er legt es wieder auf den Nachttisch. Was er eigentlich hat sagen wollen: Kein Grund zur Sorge, er werde morgen dabeisein, nicht selber operieren, aber dabeisein, kein Grund zur Sorge usw.
     
    . . .
     
    Er hatte nie wieder einen Unfall.
     
    . . .
     
    Der Patient, offensichtlich enttäuscht, wagt nicht zu fragen, warum der Chef nicht selber die Operation vornimmt.
     
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    Ihre Frage: Bist du sicher?
     
    . . .
     
    Mehr über den Unfall berichtet er nie.
     
    . . .
     
    Marlis hat den Lastwagen gesehen, sie hat ihn gewarnt, er hat den Lastwagen gesehen, aber nicht gebremst; er hatte Vorfahrt. Es kann sein, daß er sogar Gas gegeben hat, um zu zeigen, daß er sicher ist. Sie hat geschrien. Die Gendarmerie von Montpellier gab ihm recht.
     
     
    VULPERA-TARASP, Juni 1969
     
    Was man so in einer Kur alles tut! – seit einer Woche täglich die NZZ (Neue Zürcher Zeitung und schweizerisches Handelsblatt, 190. Jahrgang) gelesen … Kann man sagen, daß diese Zeitung lügt?
     
    Hotel im guten alten Stil. Nichts großkotzig. Lift zu klein, um auch noch einen Liftboy hineinzustellen; mit hölzernem Scherengitter; wenn man auf den Knopf drückt, so geht's nicht sofort los, und wenn es dann losgeht, so wackelt's; ein technisches Faktotum, man darf vermuten, daß es schon Hoheiten geliftet hat. Aber Bad und Klo sind modern. Nicht wie Hilton-Hotels für Großverdiener ohne Tradition; diese Hotellerie weiß, wie Aristokraten zu Hause leben – so wie hier: schlicht und zuverlässig und unaufdringlich bedient, eben nicht großkotzig, wenn auch von Kindsbeinen an gewohnt,daß uns jemand die Wagentüre öffnet und abends unser Pyjama aufs Bett legt mit gefalteten Ärmeln, als bete es schon.
     
    Was nicht am ersten Tag zu erraten ist: die Branche. Sofort zu erraten, auch wenn über das Wetter gesprochen wird, über Diät, über einen Schwiegersohn in Lissabon, über Hunde, über Verstorbene usw.: sie sind die Inhaber. Kennzeichen dieses Tons: es ist selbstverständlich, daß sie wählen können, sie fordern ohne Zögern – nichts Ungehöriges, nur Dienstleistungen, die sie angemessen bezahlen, Freundlichkeit macht sie freundlich; ihre Gewißheit, daß sie nur gefragt werden können, was sie wünschen. Ihr Ton des selbstverständlichen Anrechts –
     
    Jugendliche besudeln das Zürcher Obergericht mit roter Farbe, vorher gelingt ihnen noch eine Verkehrsstörung. (11. 6.) Die Presse sehr ernst; sie mahnt die Behörde. Nur ein entschlossenes Eingreifen der Polizei, sonst ist Volkszorn (gegen die Jugendlichen) nicht aufzuhalten, »Bürgerwehren«. Dabei kein Wort zum Anlaß: daß jugendliche Demonstranten vom Sommer 68 heute vor Gericht stehen, wogegen die Polizei-Täter vom Sommer 68 nicht vor Gericht zu stellen sind; sie können nicht ermittelt werden. Immerhin wird jetzt die Mißhandlung von Verhafteten nicht mehr bestritten, aber davon hat man, laut NZZ, nachgerade genug gehört.
     
    Wanderungen im National-Park.
     
    Man kann nicht sagen, daß ihre Zeitung lügt; sie verhindert nur dreimal täglich die Aufklärung. Ihr Kniff: die Inhaber als die Verantwortungsbewußten. Nicht nur in Wirtschaftund Industrie, auch in der Armee. Die Inhaber sind von der Arbeitskraft abhängig, aber nicht von deren Meinung; hingegen ist die Mehrheit abhängig von der Meinung der Inhaber: Das ergibt das Verantwortungsbewußtsein der Inhaber. Es spricht fast aus jedem NZZ-Artikel, oft zwischen den Zeilen. Man gibt sich in der mise-en-page so langweilig wie möglich, das wirkt seriös. Es

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