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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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die Mehrheit?
     
    Wanderung durch den National-Park.
    Viel zum Lachen, wie immer, wenn Friedrich Dürrenmatt das thematische Menü bestimmt … Neulich gab es Dschingis-Khan, frisch von der Lektüre, üppig garniert mit chinesischen Dynastien, Historie gespickt mit Flunkern, auf Witz gegrillt. Heute gab es DERNACKTE AFFE, ebenfalls köstlich zubereitet: Mensch am Spieß der Zoologie, geröstet auf Fakten (Blutdruck beim Coitus: 200) und gespickt mit Spekulationen aus seinem eignen Garten. Kommt man mit thematischen Wünschen, so ist es schade; es ist immer am köstlichsten, was der Koch sich selber wählt. Unlängst im Spital zu Bern gab es Proust, eingelegt in schlaflosen Essig, dann mit frischem Gedächtnis serviert und am Krankenbett flambiert mit Witz. Das war Vier-Stern! So etwas kann man nicht nochmals bestellen, um auch seine Frau in den Genuß zu bringen; heute gibt es keinen Proust, nicht einmal kalt. Heute also Berner Platte: DER NACKTE AFFE, verkocht mit Ulk über Ärzte, Innereien aus Konolfingen, schmackhaft durch Dramaturgie, dazu Kalbskopf aus der einschlägigen Literatur-Kritik, gepfeffert mit Zitat. Dazu Veltliner. Nachher gibt er mir das Taschenbuch, dem er seine Kenntnisse verdankt. Ich werde mich hüten das Taschenbuch zu lesen. Erstens ist es immer besser, was er draus gemacht hat, und zweitens fasziniert ihn nicht mehr, was auch der andere kennt. Neulich kam das Gespräch auf einen Godard-Film, den er nicht gesehen hat; er wechselte auf einen andern Film, den er gesehen hat, und als sich zeigte, daß wir den betreffenden Film ebenfalls kennen, unterbrach er das Gespräch: jetzt schilderte er einen japanischen Film, den außer ihm niemand gesehen hat. Er braucht den Vorsprung, dann wird es großartig und gemütlich. Früher war es jahrelang die Astronomie, ich war jedesmal fasziniert von seinen Darstellungen. Ein dickes Buch, das er mir gab, nahm ich nach Korsika ins Zelt als einzige Lektüre für drei Wochen, und als ich ihn das nächste Mal besuchte, wußte ich wenigstens das Einmaleins, meinte besser gerüstet zu sein für die Gespräche über Astronomie; er sagte: Was interessant ist, weißt du, das ist die Biochemie. Er braucht meine Unkenntnisse, und an solchen fehlt es nicht. Mein Interesse an Astronomie hat sich trotzdem erhalten, seines natürlich auch; nur unterhalten wir uns kaum noch darüber. Komme ich zur Super-Nova, so ist er längst bei den Pulsaren. Einmal in Neuenburg gab es sich, daß Teo Otto, der Bühnenbildner, sich ausgiebig für Architektur interessierte; Friedrich Dürrenmatt hörte zwar lange zu, aber es machte ihn trübsinnig; er schlug vor, daß wir Boccia spielen. Er gewann über alle Maße. Am andern Tag, als er wieder ein Boccia vorgeschlagen hatte, schien erweniger Glück zu haben, und die Partie kam nicht zu Ende, er hatte jetzt Lust auf einen Apéritif, viel zu sagen über Dramaturgie. Er bleibt der Gebende. Auch neulich in Bern, im Spital, gab es einen sehr alten LATOUR-Bordeaux; die Krankenschwester entkorkte für den Besucher, der wie sie den Spital-Ernst wahrte, während Friedrich Dürrenmatt lachte. Zum Beispiel über das Versagen eines Arztes; ohne Beschwerde, er erzählt es ganz als Komödie. Das ist mehr als Humor. Wir kennen uns über zwanzig Jahre. Es stimmt nicht, daß er nicht zuhören könne. Als der Wirt in Schuls sich an unsern Tisch setzt und einiges zu melden hat (wie die Bündner etwa einen Aga Khan ausnehmen) und dann allerdings nur noch quatscht, ist Friedrich Dürrenmatt ein Herkules im Zuhören; es kommt auf den Partner an.

Dankbarkeiten
    Keine Instanz verlangt jährlich oder zweijährlich (wie die Steuerbehörde) eine Liste der Dankbarkeiten … Gestern auf der Straße habe ich von fern einen Mann gesehen, dem ich viel zu verdanken habe, sogar sehr viel. Es ist zwar lange her. Er scheint es zu wissen, daß ich ein Gefühl der Dankbarkeit nie loswerde; Gefühl ist es eigentlich nicht mehr, aber ein Bewußtsein. Lebenslänglich. Hingegen hatte ich das Gefühl, er habe mich vorher schon erkannt, aber er ging weiter, tat, als habe er mich nicht gesehen. Was soll er mit meinem Bewußtsein von Dankbarkeit? Ich hätte ihm gerade noch nachlaufen können, tat es nicht und war betroffen, daß ich es nicht tat. Er hat nicht allein mein Studium der Architektur ermöglicht; Schopenhauer, Mozart und Beethoven, Nietzsche, Psychologie, Riemenschneider, Oswald Spengler, Bruckner, die Khmer-Kunstund so vieles verdanke ich diesem Mann, auch das Engadin.

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