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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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überträgt sich auf die Leser; sie kommen sich seriös vor, schon wenn sie die NZZ in der Hand halten. Ihre Mienen, wenn sie lesen: noch seriöser. Und nachher wissen sie's, wie unseriös jeder anderslautende Bericht wäre; daher brauchen sie ihn gar nicht. Ab und zu ein kleiner Rufmord, humorig oder gediegen durch Herablassung; nur wer den Fall genauer kennt, sieht die Gemeinheit. Die besseren Schreiber halten sich streng an die Tatsachen, soweit sie die Meinung des Blattes bestätigen, d.h. sie lassen die Tatsachen sprechen. Vor allem aus dem Ausland. Die schweizerische Neutralität verpflichtet zwar nicht den Staatsbürger in seinem Denken, aber den Staat in seinen Verlautbarungen; daher zu einem gewissen Grad auch dieses Blatt, das die Stimme der Schweiz ist. Die stilistische Neutralität (ein Ulbricht wird in der Berichterstattung nicht anders präsentiert als ein Obrist in Athen, der an der Macht ist; ein Breschnew nie als Person diffamiert; Kiesinger oder Strauß werden ohne Einmischung zitiert; die Probleme der italienischen KP nicht ohne Verständnis berichtet, Nixon für einen kleinen Truppen-Abzug aus Vietnam nicht getadelt usw.) bewirkt immerhin, daß für den Leser gelegentlich das Wesen der Politik durchsichtig wird: Kampf zwischen Macht-Interessen – im Ausland, wogegen es im Inland wesentlich um die offiziöse Moral geht. (»Wehret den Anfängen.«) Da lokale Tatsachen, dem Leser möglicherweisebekannt, sich nicht ohne weiteres eignen für den Informations-Stil, der einfach Tatsachen sprechen läßt, muß das Urteil dann und wann adjektivisch angesteuert werden: »unverantwortlich«, »nach ausländischen Mustern«, »linksintellektuell«, »Drahtzieher«, »Randalierer und deren Hintermänner«, »sogenannt fortschrittlich«, »wer im Hintergrund untergründig die Fäden zieht«, »Unfug«, »Radaubrüder und Gaffer«, »Scharfmacher«, »auf Kosten der Steuerzahler«, »der Verharmlosungsversuch des bekannten Linkssozialisten«, »destruktiv«, »unschweizerisch« usw. Eine Darstellung, die der eigenen Tendenz zuwiderläuft, ist »tendenziös«. Oft auch wieder eine belustigende Lektüre: »Es hat sich in der Tat erwiesen, daß mit Toleranz und Langmut – entgegen ursprünglicher Erwartung – das wünschbare Ziel leider nicht mehr zu erreichen ist.« Hiemit ist nicht nur das Wesen der Toleranz definiert, sondern ich weiß, was einzig und allein wünschbar ist. Die Kunst der feinen Lüge besteht lediglich darin, daß die Meinung, die dreimal täglich die Macht der Inhaber sanktioniert, nicht eine Klassen-Meinung sei, sondern Ethos schlechthin und somit im Interesse der Mehrheit.
     
    National-Park: – obschon die Menschen sich an die ausgepflockten Pfade halten, pfeifen die Murmeltiere und verschwinden, Hirsche bleiben auf der andern Talseite, die Gemsen in Feldstecher-Ferne.
     
    Daimler-Benz verzeichnet Riesengewinn. Was legal ist: Gratis-Aktien an die Aktionäre; ein Hauptinhaber gewinnt 140 Millionen. Um den Arbeitsfrieden zu erhalten, der diesen Gewinn ermöglicht hat, wird die Belegschaft ebenfalls am Gewinn beteiligt: 320 Mark für jeden Arbeiter einmalig.
     
    Belletristik: Wenn es möglich ist, daß Leute, deren gesellschaftlicher Gegner man ist, sich unumwunden als Verehrer vorstellen.
     
    Wie sich die Griechen den Hades vorgestellt haben: – ein ältliches Paar aus Zollikon, das Mühle spielt, anderswo eine Familie mit keuschen Töchtern, in der Nische ein dicker Finne (liest Malraux) immer allein, andere vereint die Langweile nach unaufdringlicher Verbeugung, dann rücken sie die Sessel zusammen. Was sie reden? Vom Nebentisch höre ich: wo man am besten kauft. Dazu trinken sie Kaffee wie im Leben. Später in der Bar: wo man in Hongkong am besten speist. Aber dann weiß die Dame einen Rabbi-Witz; Lachen wie im Leben. Die Gattinnen erhalten sich besser, ihre Geschlechtlichkeit hat sie auch verlassen, aber sie sprechen mehr und flinker, sitzen ohne Buckel. Einer ohne Stock schlurft langsam Schuh vor Schuh, man hat immer Angst: Und wenn eine Schwelle kommt? Eine Gattin, die ihren Lebensgefährten nach seinem Hirnschlag betreut, trägt Schmuck pfundweise wie Beute, sagt ihm ab und zu, was er früher gewußt hat. Das Ehepaar aus Zollikon, nachdem es einen langsamen Walzer getanzt hat, ist jetzt schlafen gegangen. Kenner am Nebentisch: sie sammeln also Perser-Teppiche, Werte, die Werte bleiben. Es ist zehn Uhr. Morgen ist auch Tag. Es wird sich nichts verändern.
     
    Wie sie vor dem

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