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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Essen noch die Nachrichten hören, Herren im dunklen Anzug, die Damen mit Pelzumhang, die nicht zuhören: Breschnew verflucht China, Husak säubert weiter, aber die tschechischen Schriftsteller noch immer standhaft, sogar die tschechischen Arbeiter scheinen für die Freiheit zu sein, Pompidou bildet sein Kabinett, Israel vergilt weiter, Fischsterbenim Rhein, der schweizerische Bundesrat wird prüfen, zum Schluß die allgemeine Wetterlage – nicht alles ist erfreulich, aber alles in allem eine Bestätigung: Lauf der Welt. Im Prinzip verläuft sie schon richtig für die Inhaber.
     
    »Der Stadtrat ist nicht bereit, weitere Ausschreitungen zu dulden … Das Recht der Bevölkerung auf freie Meinungsäußerung und auf Durchführung von Demonstrationen bleibt unangetastet … Die Polizei ist auf Grund einer Wegleitung des Stadtrates über das einzuschlagende Vorgehen genau instruiert.« Dazu ag-Meldung: »Die motorisierten Wasserwerfer sollen nicht nur mit gewöhnlichem Wasser gefüllt werden, sondern es wird ihnen eine chemische Substanz beigemischt, die das Wasser noch nasser macht. In einer weiteren Alarmstufe werden noindente Armeeflammenwerfer zum Einsatz kommen, die von den eingesetzten Polizeimännern am Rücken getragen werden und mit Wasser und flüssigem Tränengas gefüllt sind. Wie von der Polizei zu erfahren war, wurde die chemische Zugabe zum Wasser bereits in Deutschland erprobt.«
     
    Ofenpaß; wo ich 1945 eine Baracke heizen mußte für deutsche Überläufer, ihre Schnauze in der Kapitulation. Bahnhof Schuls: die Waggons mit Geretteten aus Theresienstadt. Überall diese Souvenirs, auch wenn ich sie nicht erwähne.
     
    Mehrheit (nicht erst die Mehrheit bei Wahlen, sondern die öffentliche Meinung auch in Fragen, worüber nie abgestimmt wird), wie entsteht sie? Nicht nur der Briefträger, Angestellter beim Bund, hat eine Familie; auch der Professor, Angestellter beim Bund, hat eine Familie und darüber hinaus eine gesellschaftlicheAufgabe: Forschung, die Kredite braucht. Soll er diese Kredite gefährden durch eine Unterschrift oder Rede? Man kann's nicht verlangen. Duckmäuser? Der Einzelne verhält sich zum gesellschaftlichen Klima, das er vorfindet; es ist zumindest ein Risiko, wenn einer der öffentlichen Meinung widerspricht. Meistens steht es nicht dafür; die Chance, daß ein persönlicher Einsatz mehr verursacht als Repressionen gegen die Person, ist gering. Je mehr Leisetreter in einem Land, um so verwöhnter wird allerdings das Ohr der Macht-Inhaber, um so kränkbarer; ein verfassungsmäßiges Referendum der Studenten gilt bereits als »Zwängerei« (NZZ). Was der herrschenden Meinung widerspricht, ist skandalös. Infolgedessen werde ich vorsichtig. Soll ich mir das Leben denn schwerer machen? Infolgedessen gebe ich dem Sozial-Drucknach; dabei erliegt der einzelne leicht einer Täuschung: ich halte es bei allen andern für Gesinnung, was bei mir nur Vorsicht und Duckmäuserei ist, bestenfalls Meinungslosigkeit. Die Summe aller Duckmäuser, die sich das Leben nicht schwerer machen wollen, ergibt endlich den Popanz der öffentlichen Meinung, die sich die Macht-Inhaber formulieren; dazu haben sie die Mittel: Schule, Presse, Fernsehen, Universität, Kirche. Eben weil sie im Grunde nicht Ausdruck eigenen Bewußtseins ist, sondern entstanden aus Sozial-Druck, reagiert die öffentliche Meinung gereizt auf jedes andere Bewußtsein; die Mehrheit empfindet Bewußtsein schlechthin als subversiv: WEHRET DEN ANFÄNGEN. Sehen die Leisetreter sich in der Mehrheit, so brauchen sie aber nicht mehr leisezutreten, sie werden kollektiv-aggressiv: BÜRGERWEHREN. Begreiflicherweise bangen sie um den Lohn ihrer lebenslänglichen Vorsicht. Die öffentliche Meinung als Konsensus aller, die der Sozial-Druck korrumpiert hat, gibt sich immer moralisch; sie muß kompensieren. Das ist in jedem System so. Die Angst vor Repressalien mausert sich zur Gesinnung. Zwar übernimmt diese Mehrheit nicht die Macht, daran hindert sie eben die Gesinnung, ihr Einverständnis mit den Macht-Inhabern; sie nimmt jetzt den Macht-Inhabern lediglich die Repressalie ab. RUHE UND ORDNUNG, dafür tritt der Stammtisch ein; daß ein andersdenkender Lehrer aus der Schule fliegt, dafür müssen die Macht-Inhaber kaum noch sorgen, das besorgt die Mehrheit, die sich die Macht-Inhaber durch Repressalie geschaffen haben, auf demokratische Weise. Man bezeichnet das Volk in der Schweiz gerne als SOUVERÄN: weil ja die Mehrheit entscheide. Wie souverän ist

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