Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
verdrehte, vertrocknete kleine Zweige aus Hirnmasse baumelten. Er umarmte seine knochigen Knie und donnerte seinen Kopf unaufhörlich im stets gleichen Rhythmus immer wieder rückwärts gegen die Wand, während er mantraartig ununterbrochen irgendetwas murmelte. Ich befand mich zwar mit ihm in der Zelle, in meinem Traum fühlte ich mich trotzdem frei, nicht als Gefangener wie er. Ich stand ihm gegenüber, beobachtete ihn … und aus Neugier und Mitleid trat ich etwas näher an den gequälten Gefangenen heran und beugte mich ein Stück zu ihm hinunter, um hören zu können, was er sagte.
Als ich ihm so nahe kam, dass ich seine Augen, die auf irgendeinen Punkt im Raum fixiert waren und mich überhaupt nicht wahrnahmen, deutlich erkennen konnte, überkam mich plötzlich eine weitreichende Erkenntnis. Einen Moment lang richtete ich mich kerzengerade auf, aber ich widerstand dem Drang, vor ihm zurückzuweichen.
Ich erkannte, dass diese Kreatur der Schöpfer selbst war. Und niemand außer mir hatte diese Wahrheit je erkannt. Nicht einmal die Dämonen, die Ihn in diese Zelle gesteckt hatten. Die Dämonen, die Ihn gefoltert hatten. Unseren Vater, der uns alle und alles um uns herum erschaffen hatte, durch diese Anstrengungen jedoch völlig ausgelaugt und letztlich verrückt geworden war.
Trotz dieser unglaublichen Erkenntnis fühlte ich noch immer eine sanfte Besorgnis für dieses Wesen, das mehr litt als die bedauernswerteste Seele in der gesamten Hölle. Ich machte einen weiteren Schritt auf Ihn zu und beugte mich erneut hinunter, um zu hören, was Er murmelte.
»Es tut mir leid«, sagte der Gefangene zu sich selbst, oder zu mir. Immer wieder und wieder. »Es tut mir leid … Es tut mir leid …«
Dreiundachtzigster Tag
Um mir – oder besser gesagt: Chara – einen Gefallen zu tun, hat ein Dämon mit chirurgischer Erfahrung als Folterer den Schriftsteller Frank Lyre aus meinem Tagebuch befreit.
Chara hat angefangen, mein Tagebuch von Anfang an zu lesen, was mir zwar schmeichelt, mich gleichzeitig aber auch nervös macht, denn ich frage mich, was sie wohl über die Einträge über sich selbst denken wird. Bis jetzt hat sie sich sehr wohlwollend geäußert, und ich habe sie sogar dabei ertappt, wie sie über einige Passagen kicherte – ich denke, das ist ein gutes Zeichen.
Heute ist sie bei dem Eintrag für den vierzigsten Tag angekommen. Zufälligerweise – oder auch nicht – war dies auch der Tag, an dem ich mit dem Wesen eingesperrt wurde, von dem ich gestern geträumt habe. In diesem Eintrag habe ich auch beschrieben, wie es mir gelungen ist, mit Lyre zu kommunizieren und wie ich ihn danach gefragt habe, was passieren würde, falls ich versuchen sollte, sein Auge zu befreien oder seine Haut zu entfernen, in die das Buch eingebunden ist. Würde er endlich wieder zu einem kompletten Menschen regenerieren? Damals hatte er mir gesagt, er sei nicht sicher, was dann passieren würde.
An jener Stelle unterbrach Chara ihre Lektüre und erklärte mir, dass Lyre tatsächlich befreit werden könnte – und dass dieser Dämon mit den recht verstörenden Talenten in unserer Mitte genau der richtige Mann für den Job sei.
Ich beobachtete ihn dabei, wie er ein einfaches Filetiermesser, das er aus seinem geheimnisvoll ausgebeulten, klimpernden Werkzeuggürtel hervorzauberte, dazu benutzte, den Einband aus menschlicher Haut von den Deckeln meines Tagebuchs zu schälen. Allein die Vorstellung, diese Technik könne Lyre verletzen, tat mir selbst weh. Vor der Operation habe ich Lyre gefragt, ob er möchte, dass wir es zu Ende bringen, und er hat mir durch seinen Zwinkercode mitgeteilt, dass er es so wünschte.
Wie ein Koch, der geschickt ein Spiegelei wendet, ohne das Eigelb zu zerstören, gelang es dem Folterknecht, die Haut so zu entfernen, dass das Auge heil blieb und noch immer zwinkerte. Er legte den Fleischlappen auf mein Bett, und dann zogen wir den verbliebenen Einband von meinem Tagebuch und verbrannten ihn. Daran befanden sich schließlich noch immer ein paar Reste von Lyre, wie Gras darin verwurzelt, und auf diese Art bündelte sich seine restliche Seele in einem einzelnen, recht ansehnlichen Stück Fleisch. Der Dämon erklärte uns, dass nun besser gewährleistet werden konnte, dass sich der Einband aus geschundenem Fleisch tatsächlich zu einem kompletten Menschen regenerieren würde …
Er hat mir außerdem erklärt, dass es, da nur noch so wenig von ihm übrig ist, ein langwieriger, schmerzhafter Prozess für
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