Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
und nicht zuletzt die lange Grenze zum Irak, auf dessen Seite immer noch US-Truppen stationiert sind.
Dieses strategische Minenfeld traute sich niemand so richtig zu betreten.
Der neue politische Faktor:
Die arabische öffentliche Meinung
„Erst einmal vor der eigenen Haustüre kehren“, dürfte zunächst einmal das arabische Motto sein. Es gilt, die Diktatoren loszuwerden und in jedem befreiten Land ein neues politisches System zu schaffen. Dabei tritt der arabische Pan-Nationalismus zunächst einmal in den Hintergrund. Vielleicht auch deshalb, weil sich die arabischen Autokraten immer seiner bedient haben, um von den internen Problemen abzulenken. Immer wenn in der heimischen Küche etwas anbrannte, deuteten sie mit dem Finger auf Israel, den Westen oder die USA. Die dortigen verlogenen Doppelstandards machten den arabischen Diktatoren dieses Ablenkungsmanöver mehr als leicht. Sie brauchten nur da-rauf hinzuweisen, dass der Westen Israel und die arabische Welt mit zweierlei Maß taxiere und dass die offensichtliche Ungerechtigkeit in der Palästinenserfrage international hingenommen werde, und schon war der arabische Ärger weg vom Regime auf den Westen gelenkt.
Der arabische Nationalismus ist nach dem Arabischen Frühling zunächst nicht mehr die dominante Ideologie. Aber eine Revolte in Tunesien löste eine Revolution in Ägypten aus, der Aufstände in Libyen, Bahrain, Jemen und Syrien und Demonstrationen und Proteste in fast allen arabischen Ländern folgten – diese arabische Kettenreaktion deutet darauf hin, wie stark der gefühlte Zusammenhang der Araber ist.
Der arabische Nationalismus wird in einer neuen Form aufwachen, nicht als stumpfes Instrument abgehalfterter Regime, sondern in Form der arabischen öffentlichen Meinung. Denn genauso wie die Tunesier, Ägypter, Libyer, Syrer, Jemeniten, Bahrainis Rechenschaft von ihren eigenen politischen Systemen einfordern, genauso werden alle zusammen als arabische öffentliche Meinung dieses neue Prinzip der politischen Haftbarmachung gegenüber Israel, Europa, den USA und dem Westen einklagen.
Israel kann keinen Deal mehr mit einer Handvoll arabischer Diktatoren machen, sondern muss in Zukunft die arabische öffentliche Meinung davon überzeugen, dass ein Prozess eingeleitet wird, der zu einer gerechten Lösung für die Palästinenser führt. Die arabischen Revolutionen gehen auch an der palästinensischen Gesellschaft nicht spurlos vorüber. Dort gilt es zunächst, sich zu entscheiden, ob die Lektion aus dem massenhaften arabischen zivilen Ungehorsam gegenüber den Regimen zuerst gegen die israelische Besatzung oder gegen die eigenen Herrscher, Fatah und Hamas, angewendet werden sollte. Beide haben sich jahrzehntelang als denkbar schlechte Manager des Palästinenserproblems erwiesen.
Aber die arabische öffentliche Meinung wird mit ihrer Forderung nach Rechenschaft nicht bei Israel haltmachen. Auch gegenüber dem Westen, Europa, den USA wird diese Forderung auftauchen, und damit muss auch das Kapitel „Arabische Welt und der Westen“ neu geschrieben werden.
Dieses Verhältnis ist für Europa keine Frage von außenpolitischer Exotik. Die Revolutionen fanden nicht in Osttimor, sondern direkt vor der europäischen Haustür statt. Der Tahrir-Platz liegt gerade einmal dreieinhalb Flugstunden von Berlin, Wien oder Zürich entfernt. In der arabischen Welt liegt die größte Tankstelle der Deutschen, Österreicher und Schweizer, hierher fahren sie das nächste Mal in den Urlaub. Die arabische Welt und die von dort kommende Migration wird den populistischen Parolen der rechten Parteien Europas Futter liefern. Genauso wie auch nach dem Tod Bin Ladens die europäische Sicherheit unmittelbar mit diesem Verhältnis verbunden ist, und mit der Frage, wie es die arabischen Revolutionen schaffen werden, die militanten islamistischen Strömungen zu isolieren.
Die arabische öffentliche Meinung wird eher früher als später auch von Europa Rechenschaft fordern. Eine neue, selbstbewusste arabische Welt wird erwarten, dass man ihr auf Augenhöhe begegnet und sie nicht aus-, sondern einschließt. Wie es im Friedensgutachten 2011, in einer Stellungnahme von fünf deutschen Friedensforschungsinstituten, dazu sehr klug heißt: „Die Angst vor Destabilisierung und vor Flüchtlingsströmen ist kein kluger Ratgeber“, wenn es darum geht, die Chance zu nutzen, das europäisch-arabische Verhältnis auf neue Füße zu stellen.
Der Westen stellt dabei keine Einheit dar. Die USA
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