Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
blicken aus strategischen Erwägungen auf die arabische Welt, sei es wegen des Erdöls oder wegen Israel. Für Europa ist die arabische Welt unverrückbar geografisch am südlichen Mittelmeer installiert. Strategische Erwägungen und Werte können sich verändern – geografische Nachbarn nicht.
Die arabische revolutionäre Baustelle
Apropos Nachbarn. Bei mir sind vor ein paar Wochen auch ein paar neue eingezogen, sogar sehr prominente. Eigentlich wollte ich die neuen Anrainer willkommen heißen, aber man hat mich nicht vorgelassen. Meine Kairoer Wohnung liegt unweit des Thora-Gefängnisses. Dort haben es sich die Mubarak-Söhne Gamal und Alaa eingerichtet. Tja Gamal, so schnell kann es gehen, vom Präsidentschaftsanwärter zum Zellenbruder. Ehrlich gesagt, habe ich immer noch dieses unwiderstehliche Gefühl, mich selbst kurz zu zwicken, wenn ich die Gefängnismauern entlangfahre und darüber nachdenke, dass nicht nur die Präsidentensöhne, sondern auch ein guter Teil der alten Ministerriege und regimenaher Geschäftsleute dahinter einsitzen.
Nicht nur neben meinem Haus, auch neben meinem Büro tut sich etwas. Es entsteht der erste revolutionäre Fischladen, mit einem nagelneuen, in der Sonne glänzenden Schild in den nationalen Farben rot-weiß-schwarz, auf dem bereits der „Fisch des 25. Januar“ angepriesen wird. Noch letztes Jahr hätte der Jungunternehmer sein neues Projekt je nach dominanter Geisteshaltung nach dem Motto: „Ich bin ein gläubiger Muslim“ vielleicht einfach „Mekka-Fisch“ genannt und mit einem Bild der Kaaba versehen, oder zum Zeichen seiner arabisch-nationalistischen Aspirationen hätte er ihm den Namen „Al-Aqsa-Fisch“, gegeben, flankiert vom Jerusalemer Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee. Heute wählt er stolz das Anfangsdatum der ägyptischen Revolution.
Drinnen wird auf der Ladenfläche von 3 x 5 Meter gehämmert und genagelt, gebohrt und geschliffen, dass die Funken nur so sprühen. Wie das Ganze am Ende aussehen wird, kann man nur erahnen. Wie hier ist die ganze arabische Welt eine einzige gigantische revolutionäre Baustelle.
Arabische Schmetterlinge
Genau ein Jahr nach dem tragischen Tod Khaled Saids, der im Sommer 2010 auf offener Straße von Polizisten zu Tode geprügelt wurde, am 6. Juni 2011, marschierte eine Gruppe von mehreren hundert Demonstranten direkt vor das ägyptische Innenministerium in der Kairoer Innenstadt, ein Ort, an dem man früher vor Unwohlsein und auch Angst bei der Vorbeifahrt kurz den Atem angehalten hatte. Vor dem Haupteingang stand eine kleine Gruppe von Polizeioffizieren in Zivil und beobachtete mit leise gedrehten Funkgeräten die Szene, wie ein Demonstrant neben die Hauptpforte schritt. Er hielt eine Schablone an die Wand und begann unter tosendem Applaus der Demonstranten mit Lackfarbe zu sprayen. Keiner der Polizisten schritt ein. Als er die Schablone wegnahm, erschien das durch eine Facebook-Kampagne im ganzen Land bekannt gewordene Gesicht Khaled Saids an der Wand. Direkt neben dem furchteinflößenden Adler, dem Emblem des Innenministeriums, prangte nun das Symbol für Polizeiwillkür und die Brutalität des Sicherheitsapparates zu Mubaraks Zeiten.
Darunter steht der arabische Schriftzug:
„Wird mein Blut – durch deine Augen – zu Wasser werden?
Wirst du mein blutbeflecktes Gewand vergessen?“
Wie sehr sich die arabischen Zeiten geändert haben.
Der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Norton Lorenz hatte einst mit seiner berühmten Frage: „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ die Theorie vom so genannten „Schmetterlingseffekt“ begründet. In einem empfindlichen, instabilen System können kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen enorme Folgen nach sich ziehen.
Ein solcher Flügelschlag war die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi, der von den Behörden einmal zu viel drangsaliert worden war und sich in einem tunesischen Kaff mit Benzin übergoss und anzündete.
Mohammed Bouazizi und Khaled Said waren zwei traurige Schmetterlinge – die nächsten arabischen Tornados kommen bestimmt.
Danksagung
„Mit einer Hand kann man nicht klatschen“, lautet ein arabisches Sprichwort. Bücher, könnte man hinzufügen, schreiben sich auch nicht mit einer Hand. Die in diesem Falle mit Abstand wichtigste war die der Programmchefin des Verlages Kremayr & Scheriau, Barbara Köszegi (ja, es gibt auch noch andere komplizierte
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