Tagebuch der Lust
nicht genug zu essen. Dein Vater und dieser Mister Cranton behandeln sie schlecht. Ich kann nicht einfach wegsehen.“
„Victoria …“
„Nein, Alisha. Ich werde etwas dagegen unternehmen. Notfalls entlasse ich Mister Cranton.“
Alisha riss erschrocken die Augen auf.
„Das darfst du nicht“, wisperte sie. „Mein Vater wird dich umbringen.“
„Dein Vater ist nicht da“, erwiderte ich bestimmend. „Wäre er seiner Pflicht nachgekommen, mich als seine Frau vorzustellen, hätte Mister Cranton mit Sicherheit mehr Respekt vor mir. Ich werde heute Abend mit Jethro darüber sprechen.“
Damit ließ ich sie stehen, stieg auf mein Pferd und ritt davon. Diese Familie wurde von einem Diktator geführt, der alle in Angst und Schrecken versetzte. Doch ich wollte nicht eine von Calebs Untergebenen sein. Ich war seine Frau, verdammt noch mal, und wollte gefälligst auch so behandelt werden!
Als ich am Abend zum Dinner erschien, teilte Alisha mir mit, dass Jethro noch nicht da war. Die Stimmung zwischen uns war nach dem Ereignis am Mittag getrübt, doch ich fühlte mich im Recht. Schweigend saßen wir beieinander und nahmen unser Abendessen zu uns. Hin und wieder warf Alisha mir einen bittenden Blick zu, den ich aber geflissentlich übersah. Natürlich musste sie ihren Vater respektieren, und es wäre sicherlich auch für mich gesünder gewesen, wenn ich Caleb nicht in den Rücken fiel. Aber meine Erziehung und mein Gewissen ließen nicht zu, dass jemand so mit Menschen umging. Ob sie nun Sklaven waren oder nicht.
Nach dem Essen entschuldigte ich mich. Molly kam angelaufen, um mir zu helfen, doch ich wollte noch nicht auf mein Zimmer. Daher wünschte ich ihr eine gute Nacht und verließ das Haus. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich mir dabei dachte, noch einmal hinaus zu gehen, aber es zog mich unwillkürlich zu den Sklavenunterkünften. Der laue Abendwind spielte mit meinen Haaren, und aus der Ferne drang leiser Gesang an mein Ohr. Die Sonne war bereits untergegangen, doch es war noch immer schwül. Wir hätten Regen gebraucht, aber ich wusste, dass der Sommer noch lange heiß und unerbittlich war. Mein Weg führte mich an den Stallungen vorbei, wo man mein Erscheinen mit leisem Schnauben zur Kenntnis nahm. Ich überlegte nicht lange und schlüpfte durch das Stalltor hinein. Ich betrachtete jedes einzelne der Pferde, streichelte über die weichen Nüstern und wollte schon den Wallach aus seiner Box holen, als ich plötzlich nervöses Wiehern hörte. Es kam aus dem hinteren Teil des Stalles, und meine Neugierde zog mich dorthin. Ich jauchzte vor Begeisterung auf, als ich den Schimmel sah, der unruhig in der Box hin und her tänzelte. Kein anderes Pferd im Stall konnte es an Schönheit mit diesem Hengst aufnehmen. Sein Fell glänzte seidig im Schein der flackernden Öllampe. Sein Körper war geschmeidig und muskulös, wie es sich für einen Vollblutaraber gehörte. Er schien noch recht jung und unerfahren zu sein, denn seinem Temperament nach zu urteilen, war er noch nicht vernünftig eingeritten worden. Auf einem Schild, welches an seiner Box hing, stand der Name Ghost . Ich lächelte, denn dieser Name passte sehr gut zu ihm. Ich öffnete das vergitterte Tor und ging mit beschwichtigendem Lauten auf Ghost zu. Er rollte mit den Augen und wich zunächst einen Schritt vor mir zurück, doch als ich meine Hand ausstreckte, schnupperte er daran und ließ sich den Kopf streicheln. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich musste dieses Pferd reiten! Also führte ich Ghost leise aus dem Stall und saß – ohne Sattel – auf. Sachte drückte ich ihm die Fersen in die Flanken und hielt mich an seiner Mähne fest. Als er losgaloppierte, fühlte ich mich, als würde ich fliegen. Ich war eine sehr gute Reiterin, und Ghost schien das zu merken. Unsere Körper wurden eins. Ghost vertraute mir, und andersherum war es ebenso. Als die Sklavenunterkünfte in Sichtweite kamen, drosselte ich das Tempo. Mein Auftauchen wurde sofort bemerkt und augenblicklich herrschte Ruhe. Der Gesang verstummte, und die Sklaven sahen mich skeptisch und neugierig zugleich an. Ich war ein Eindringling in der einzigen Zeit des Tages, in der sie unter sich waren und nichts zu befürchten hatten. Ich stieg von Ghosts Rücken und band ihn an einen Baum. Dann lächelte ich den Menschen entwaffnend zu. Aus einer der Hütten kam Babygeschrei, und ich ging nachsehen. Eine junge Mutter saß auf einem Feldbett und wiegte ihren Säugling im Arm. Sie sah mich kurz
Weitere Kostenlose Bücher