Tagebuch der Lust
der geringste Ausdruck von Wärme. Er war wie ein Eisblock, und bei unserer ersten Begegnung bekam ich eine Gänsehaut. Das war also der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen sollte? Ich fürchtete mich vor ihm, und jede seiner Berührungen widerstrebte mir. Seit dem Entschluss meiner Mutter vor einigen Wochen hatte ich mir die Augen aus dem Kopf geweint. Hatte gezetert und gebrüllt, doch es half nichts. Ihre Entscheidung stand fest. In zwei Tagen würde ich ihm gehören und Augusta verlassen, um ein Leben in Atlanta zu führen. Meine Mutter versuchte, mir die Sache schmackhaft zu machen, indem sie mir sagte, welch wunderbare Feste in Atlanta gefeiert wurden. Ich würde neue Leute kennenlernen und neue Freunde finden. Sicherlich war das gesellschaftliche Leben in Augusta nicht das Berauschendste, dennoch gefiel mir mein Dasein als Mädchen vom Land. Ich wusste, dass Caleb viele hochrangige Leute aus Washington kannte, nur was sollte ich mit diesen Menschen anfangen? Ich besaß nicht die geringste Ahnung von Politik und fürchtete, ich würde mich furchtbar blamieren. Doch meine Sorge war völlig unbegründet, wie ich zu einem späteren Zeitpunkt feststellen durfte, denn die meisten dieser Herren waren nicht an meinen politischen Kenntnissen interessiert. Aber dazu später mehr.
Während ich auf meinem Bett lag und mir den Kopf zerbrach, rauschte meine Mutter ins Zimmer. Wie gewöhnlich in den letzten Tagen, zog sich ein gehetzter Ausdruck über ihr Gesicht, und ich wusste sofort, dass es bei ihrem Anliegen mal wieder um meine Hochzeit ging.
„Victoria, warum verplemperst du deine Zeit im Bett?“, herrschte sie mich an. „Die Schneiderin ist da und möchte, dass du dein Kleid ein letztes Mal anprobierst.“
Ich seufzte entnervt auf und rollte mit den Augen. Wieder eine lästige Anprobe, die mich daran erinnerte, dass ich in zwei Tagen einem verhassten Mann gehören würde. Gemächlich erhob ich mich und setzte mich an meine Frisierkommode. Als ich in den Spiegel schaute, stellte ich fest, dass ich in den letzten Wochen noch schmaler geworden war, als ich es ohnehin schon war. Meine grünen Augen wirkten noch größer als sonst, und die Wangenknochen waren noch markanter geworden. Aber wie hätte ich auch essen können bei dem Gedanken an Caleb Sheldon? Eilig zupfte meine Mutter an meinen roten Haaren herum, bis sie wieder öffentlichkeitstauglich waren. Dann klatschte sie in die Hände, raffte ihre Röcke und lief wieder aus dem Zimmer. Ehe ich Zeit zum Durchatmen hatte, kam sie wieder herein, im Schlepptau die Näherin, die Caleb beauftragt hatte, mir ein prächtiges Hochzeitskleid zu schneidern. Die Trauung würde auf unserer Plantage stattfinden, und noch am selben Tag würden wir nach Atlanta aufbrechen. Caleb wollte wirklich keine Zeit vergeuden, um mich von meiner Familie fortzureißen.
Die Schneiderin lächelte breit, als sie mir das Kleid präsentierte. Es war ein Traum aus weißer Seide und Spitze, und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich es nicht erwarten können, es zu tragen. Aber unter diesen Umständen interessierte es mich nicht, selbst wenn es aus purem Gold gewesen wäre. Ich hatte es aufgegeben, mich gegen meine Mutter zu stellen, also ließ ich mir von meinem Dienstmädchen aus dem Kleid helfen und zog das Hochzeitsgewand über. Es passte wie angegossen. Unterhalb meiner schmalen Taille bauschte sich das Kleid pompös auf, und durch den Reifrock stand es wie eine überdimensionale Glocke von meinem Körper ab. Das Oberteil war sehr eng und tief ausgeschnitten, sodass mein kleiner, fester Busen voll zur Geltung kam. Die Ärmel bestanden aus Spitze, die am Handrücken pfeilförmig zusammenliefen. Die Schneiderin befestigte einen zwei Meter langen Schleier in meinen aufgesteckten Locken und trat dann begeistert einen Schritt zurück.
„Wie eine Prinzessin“, hauchte sie entzückt, und ich bemerkte, wie sich meine Mutter eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
Wenn doch nur ein Teil dieser ganzen Begeisterung auf mich abgefärbt wäre. Aber so stand ich vor dem Spiegel und erkannte die Person nicht, die mir entgegenblickte. Dennoch ließ ich das aufgeregte Geschnatter der Schneiderin über mich ergehen.
Kapitel 2
Einen Tag später traf Caleb ein. Er begrüßte mich, wie gewöhnlich, sehr zurückhaltend und frostig, wobei er aber stets die Höflichkeit wahrte. Meine Schwester und ihr Mann, die nicht weit entfernt lebten, reisten ebenfalls an, genau wie mein ältester Bruder,
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