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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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groß war wie ein Schlafsaal für zwölf in diesem Heim, nachdem eine große Schwester mich verhätschelt hatte, bevor eine ganze Gruppe von älteren Kindern mein Selbstwertgefühl jeden Tag und jede Nacht mit Füßen trat – jetzt kann ich verstehen, wieso der Schmerz so lange anhielt und ich den Knoten nicht lösen konnte, noch weit über die Zeit dieser Heimunterbringung hinaus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich noch länger bei Sally und Padraig geblieben wäre, denn dann wäre wirklich jegliche Hoffnung auf ein bisschen Liebe in mir endgültig erloschen, und St.Anthonys wäre nicht ein solcher Schock für mich gewesen.
    Als ich ein Kind war, wirkte die ganze Anlage riesengroß auf mich. Auch in meiner Erinnerung ist sie das. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein war das Gebäude als Krankenhaus genutzt worden, danach als Armenhaus, bis es – offiziell – ein Waisenhaus wurde. Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich an fratzenhafte Wasserspeier an jeder Ecke des schmutzig grauen Gebäudes. Aber es waren gar keine da. Das Eingangsportal befand sich hinter mehreren Säulen und zwei mörderischen Stufen. Es waren zwei Türklopfer aus Messing daran – ein hoch angebrachter für Erwachsene, ein niedrig angebrachter für Kinder –, und ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich an die Tür pochte: Der Messingklopfer war so dick, dass ich ihn mit meiner kleinen Hand gar nicht ganz umfassen konnte. Die fünfundzwanzig Räume wirkten gigantisch auf mich, wie auch die alten hölzernen Pulte und die Schlafsäle. Nirgendwo lag auch nur ein Fitzelchen Teppich. In den Schlafsälen gab es keine Heizkörper. Warmes Wasser gab es nicht, jedenfalls nicht in den Gemeinschaftstoiletten. Die einzigen Bilder, die an der Wand hingen, waren die von Menschen, die in diesem Heim gearbeitet hatten – sepiabraune Aufnahmen mürrisch dreinblickender Heimleiterinnen und Heimleiter, die den Großteil der Kinder, die das Pech hatten, hier zu landen, windelweich geprügelt hatten.
    Als ich nun wieder vor diesem alten Gemäuer stand, wurde mir deutlich bewusst, dass ich mich in der Vergangenheit bewegte. Ich hatte die Sechzigerjahre wirklich genossen – in Kyles weißem Citroën DS 19 zu fahren war ein absoluter Traum gewesen, und ich war total hingerissen von Lous Schlaghosen und Karinas Sammlung von Beatles-Schallplatten. Aber St.Anthonys musste so um das Jahr 1066 in ein Raum-Zeit-Kontinuum geraten sein, aus dem es seither nicht herausgekommen war. Es gibt viele Orte auf der Welt, an denen man nicht akzeptieren will, dass die Zeit fortschreitet. Und es gibt auch viele Menschen, die das nicht wollen – Hilda Marx war ein solcher Mensch.
    Miss Marx oblag die Leitung des Kinderheims St. Anthonys. Sie stammte aus Glasgow und war mit schwammigen Wangen und einem Unterbiss gestraft, weshalb sie unglücklicherweise an eine Kröte erinnerte. Hilda Marx war von einer Gesinnung, neben der selbst Gestapo-Mitarbeiter die reinsten Waisenknaben waren. Wenn ein Kind weinte, setzte es vier Hiebe; wenn es widersprach, zehn. Kinder zwischen zwei und fünfzehn Jahren mussten spätestens um sechs Uhr morgens aufgestanden sein und spätestens um neun Uhr abends im Bett liegen. Nur eine Minute Verspätung bedeutete einen ganzen Tag ohne Essen. Die Hiebe wurden mit einem schmalen Stock für die Kleinkinder oder mit einer Lederpeitsche für Kinder ab fünf Jahren ausgeteilt. Wobei ich die Bekanntschaft der Lederpeitsche schon lange vor meinem fünften Geburtstag machte.
    Margot stand im Regen und sah Lou und Kate davonfahren. Keine von beiden drehte sich nach ihr um. Noch lange, nachdem das Auto verschwunden war, stand Margot da, den Teddy weiter unter den Arm geklemmt, durchnässt vom Regen. Vor lauter Verletzung und Verwirrung zitterte sie am ganzen Körper. Frühreif und intelligent, wie sie war, hatte sie bereits begriffen, dass das hier endgültig war. Glauben Sie mir – es ist erschreckend, ein so kleines Kind mit einer solch niederschmetternden Erkenntnis zu sehen.
    Ich ließ den Blick über den Horizont schweifen. Außer einem kleinen, ärmlichen Dorf waren meilenweit nur Felder zu sehen. Ich sah mich nach einer Möglichkeit um, Margot am Betreten des kalten Gemäuers zu hindern. Näherte sich vielleicht von irgendwo ein Auto, das ich anhalten könnte, mit einer netten Familie darin,

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