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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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hing zusammengesackt und bewusstlos in den Schaukelseilen. Karina schrie. Margot plumpste rückwärts von der Schaukel, und wenn ich nicht ihren Kopf aufgefangen hätte, wäre ihr Schädel auf dem Betonboden zerborsten.
    Kyle drehte seine Runden auf dem Sportplatz gegenüber. Karina rannte zu ihm und ließ Margot mit den unnatürlich gebeugten Gliedmaßen, den blassen Wangen und den eisblauen Lippen liegen. Ich konnte ihre Herzkammern sehen. Die eine war dick und klar, die andere schlaff wie ein platter Fahrradreifen. Ich beugte mich über sie und drückte ihr meine Hand aufs Herz. Dieses Mal war das Licht golden und heilend, es vertrieb jegliche blaue Farbe aus ihren Lippen und Augen. Wenigstens vorläufig.
    Kyle und Karina kamen den Hügel heraufgerannt. Kyle brachte Margot in eine andere Stellung und fühlte ihren Puls. Ihre Atmung war sehr schwach. Er trug sie zum Auto und brachte sie auf direktem Wege ins Krankenhaus.
    Ich verfluchte mich selbst. Ich hatte nicht aufgepasst. Ich irrte durch das Krankenhaus und versuchte, herauszufinden, was ich tun musste.
    Und dann passierte es.
    Als Erstes tauchte Nan auf, ganz ruhig und mit einem Lächeln wie immer. Sie legte mir die Hand auf die Schulter und lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine nackte Wand, auf der sich etwas abspielte, eine Vision von der Herzoperation, die Margot brauchte. Nan wies mich an, zuzusehen, mir alles gut zu merken und dann dem Chirurgen zu soufflieren. Ich verstand. Das hier war ein Crashkurs in Herzchirurgie. Eine Art Fortbildung.
    Ich sah also zu. Es war eine Vision der Zukunft, die meine sein sollte. In meinem Kopf ertönte eine Stimme – eine weibliche, amerikanische Stimme –, die mir erklärte, was jeder Handgriff bedeutete, was sein Sinn und Zweck war, warum just diese Technik auf dieser Seite des Atlantiks noch nicht angewandt worden war, wie weit das Skalpell zu führen war usw. Ich hörte zu, und jedes Wort, das sie sagte, setzte sich in meinem Gedächtnis ab wie Regentropfen auf einem frisch gewachsten Auto. Ich vergaß kein einziges Wort. Kein Adverb, keine Betonung.
    Nan führte mich in den OP. Ich glaube nicht, dass in der Zwischenzeit tatsächlich Zeit vergangen war: Die OP-Schwester, die sich den Mundschutz umband, als die Vision erschienen war, fummelte immer noch mit den Bändern herum. Ich half ihr, einen Knoten zu machen, und sie bedankte sich, ohne sich überhaupt umzusehen.
    Margot lag bereits regungslos auf dem OP-Tisch, über sich eine Lampe, in deren Licht sie totenbleich aussah. Aber was viel schlimmer war: Ihre Aura war irgendwie wässrig und dünn. Sie schwebte schwach über ihrem Körper wie Nebelschwaden über einem Gewässer. Zwei Schwestern, Kyle und die Chef-Chirurgin, Dr. Lucille Murphy, zogen sich Handschuhe an und stellten sich um Margot herum auf. Auch ich näherte mich etwas mehr, und als ich das nächste Mal genauer hinsah, hatte sich die Gesellschaft verdoppelt: Es waren noch vier Schutzengel hinzugekommen – einer für jeden im OP Anwesenden. Ich nickte ihnen allen zu. Wir hatten zu tun.
    Lucilles Schutzengel war ihre eigene Mutter Dena, eine kleine, rundliche Frau, die eine solche Ruhe ausstrahlte, dass ich sofort langsamer und tiefer atmete. Dena legte den Kopf auf Lucilles Schulter, dann sah sie mich an und trat einen Schritt zurück, damit ich ganz nah bei Lucille stehen konnte. Ich sagte ihr, sie solle nicht wie geplant einen zwanzig Zentimeter langen Schnitt direkt über dem Brustbein machen, sondern einen fünf Zentimeter langen Schnitt zwischen den Rippen. Dena wiederholte meine Anweisungen wie eine Dolmetscherin. Lucille blinzelte kurz – ihr kam Denas Anleitung vor wie eine plötzliche Eingebung. »Doktor?«, schaltete Kyle sich ein. Sie sah zu ihm auf. »Kleinen Moment.« Sie blickte zu Boden und war hin und her gerissen zwischen jahrzehntealter Operationspraxis und jener neuen Methode, die ihr gerade in den Sinn gekommen war, und die zu ihrer Überraschung völlig plausibel war. Es würde Mut erfordern, diesen anderen Weg zu gehen. Einen Moment lang dachte ich, sie würde ihn nicht aufbringen. Dann sah sie wieder auf.
    Â»Wir werden heute etwas Neues ausprobieren. Einen fünf Zentimeter langen Schnitt zwischen den Rippen. Wir werden versuchen, diesem Mädchen unnötigen Blutverlust zu ersparen.«
    Alle im Team nickten. Unwillkürlich fasste ich mir an die kleine Narbe

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