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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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der eine Dreijährige am Straßenrand auffallen, die anhalten und sie mitnehmen würde? Was war mit den Dorfbewohnern? Ich sah ihre Gesichter vor meinem inneren Auge: Die meisten waren alte Bauern, daneben ein paar misshandelte Ehefrauen. Nichts Passendes dabei. Fünfzig Kilometer entfernt lag die nächstgrößere Stadt. Das könnten wir versuchen. Ich berührte Margot an der Schulter und bat sie, mir zu folgen. Ich schob sie ein wenig an. Aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Ich lief zum Einfahrtstor und schrie ihren Namen, bis ich heiser war. Sie rührte sich nicht. Und ich konnte ohne sie nicht gehen. Schicksal? Vergessen Sie’s. Menschliche Entscheidungen. Margot hatte eine getroffen, ohne sie zu begreifen und ihre Konsequenzen zu verstehen.
    Nur widerwillig ging ich zu ihr zurück. Ich kauerte mich neben sie, legte den Arm um sie und versuchte, ihr alles zu erklären. Ich versuchte, es so zu verpacken, dass ich als Dreijährige es auch verstehen konnte.
    Weiß du was, Margot? Du bist clever, du bist zäh. Ohne sie wird es dir viel besser gehen. Lou versprüht ungefähr so viel Mutterliebe wie ein weißer Hai. Kate ist der Antichrist. Ich bin bei dir, Kleines. Du wirst etwas länger, als dir lieb ist, hinter diesen Mauern verbringen. Aber weißt du was? Ich werde dich nicht alleinlassen. Ich bin auf deiner Seite. Du wirst hier einigen üblen Gestalten begegnen, daran gibt es leider nichts zu rütteln. Aber solche Leute gibt es überall. Vielleicht ist es sogar besser, wenn du solche Typen schon so früh in deinem Leben triffst. Glaub mir, je früher du lernst, dich von diesen Idioten nicht einschüchtern zu lassen, desto besser. Alles wird gut. Also, hab keine Angst. Nicht weinen. Na gut. Wein schon. Raus damit. Und das war ’ s dann. Keine einzige Träne mehr, bis du das hier alles hinter dir lässt. Tränen kannst du dir nicht leisten.
    Sie ließ mich ausreden, dann rannte sie auf das Portal zu, packte den Kindertürklopfer und klopfte so fest an, wie sie konnte. Minuten vergingen. Der Regen wurde heftiger, verwandelte sich in silberne Taue. Dann ertönten jenseits des Portals schwere Schritte. Ein Türknauf drehte sich, und Hilda Marx ragte im Türrahmen über Margot auf.
    Sie sah auf das Kind herab und bellte: »Was ist das denn? Eine ertrunkene Ratte?«
    Margot starrte auf Hildas Knie. Hilda fasste dem Kind unters Kinn und zwang es unsanft, zu ihr aufzusehen.
    Â»Wie alt bist du?«
    Doch Margot starrte sie nur an.
    Â»Wie. Heißt. Du?«
    Â»Margot Delacroix«, antwortete Margot mit fester Stimme.
    Hilda zog die Augenbrauen hoch. »Und aus Irland kommst du, deinem Akzent nach zu urteilen. Na, den werden wir dir bald austreiben. Und das Gleiche gilt für deine Bockigkeit. Also, Margot Delacroix, heute ist dein Glückstag. Wir haben gerade einen unserer Gäste verabschiedet und darum ein Bett frei. Schnell, komm rein. Wir wollen doch nicht für die Vögel heizen.«
    Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, vergaß ich für einen Moment die Ekelgefühle, die dieser Ort meiner schlimmsten Kindheitserfahrungen in mir auslösten, denn ich hatte eine seltsame Begegnung: Am Fuß der Treppe stand Hildas Schutzengel. Sie war schlank, wirkte traurig, hatte üppige bronzefarbene Haare und sah Hilda sehr ähnlich – fast wie eine jüngere, hübschere Schwester. Ich nickte ihr zu. Bis dahin hatten alle anderen Engel, denen ich begegnet war, immer eine gewisse Distanz bewahrt. Doch Hildas Engel kam auf mich zu. »Ruth«, sagte ich.
    Â»Sheren«, antwortete der Engel und lächelte matt. Sie kam mir so nah, dass ich das Grün ihrer Augen sehen konnte. »Aber ich war mal Hilda.«
    Ich starrte sie an. Sie senkte den Blick. Das war Hilda? Ich fing an, am ganzen Körper zu zittern. Meine Adern schwollen an in qualvoller Erinnerung an die Schmerzen, die Angst und die Trauer, die diese Frau mir bereitet hatte. Wie sollte ich ihr jemals verzeihen, was sie mir angetan hatte? Doch als sie wieder aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. In diesem Gesicht war keine Spur von Hildas Bösartigkeit. Sie nahm meine Hände, und im gleichen Moment konnte ich den tief sitzenden bitteren Stachel der Reue in ihr spüren. Ich hörte auf zu zittern. »Ich weiß, dass du Margot warst«, sagte sie. »Bitte, bitte, vergib mir. Wir müssen zusammenarbeiten, solange Margot hier

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