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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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die noch nicht mal laufen konnten, spielen sollte. Sie ging zum offenen Fenster und sah, wie der Lehrer im Klassenzimmer gegenüber auf einmal aufhörte zu reden, zum hinteren Ende des Raumes marschierte und dann aus der Ecke, die Margot nicht einsehen konnte, einen kleinen Jungen zerrte. Wenige Sekunden später nahm der Lehrer einen hölzernen Tafelwischer zur Hand, den er dem Jungen mehrfach um die Ohren schlug.
    Einige Minuten danach kauerte der Junge auf dem Boden im Flur und rieb sich das Ohr. Er fing an, sich vorzustellen, er sei gar nicht in diesem Flur, sondern auf dem Planeten Rusefog, wo er gegen Kriegerschimpansen kämpfte, um an den Piratenschatz zu kommen. In seinen Armen formierte sich eine unsichtbare Maschinenpistole. Er richtete sie auf das gegenüberliegende Fenster und machte Schussgeräusche, als seine Torpedos zu einem riesigen Feuerwerk zerplatzten.
    Hinter diesem Fenster stand Margot und kicherte.
    Tom erstarrte, als er sie sah. Er hatte Angst, wieder geschlagen zu werden. Margot bemerkte, dass Tom auf sie aufmerksam geworden war, stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte. Er reagierte nicht. Er wandte sich wieder seiner Mission zu. Ein ganz besonders hässlicher, von Kopf bis Fuß in lila Kampfrüstung steckender Schimpanse bewegte sich auf ihn zu. Tom musste ihm den Fuß wegschießen, um ihn sich vom Leib zu halten. Er ging in die Hocke, zielte und schoss.
    Margot fand das, was da drüben im Flur passierte, tausend Mal interessanter als die Kinderkrippe. Sie ging zur Leiterin.
    Â»Ich muss Pipi, bitte.«
    Die Krippenleiterin lächelte und sah durch ihre Brillengläser auf Margot herab. »Das heißt: ›Darf ich bitte zur Toilette gehen, Miss Simmonds.‹ Ja, Margot, darfst du. Na, los.«
    Miss Simmonds öffnete die Tür, ließ Margot hinaus und schloss die Tür hinter ihr wieder ab.
    Margot ließ den Blick in beide Richtungen über den Flur schweifen. Außer ihr und Tom, der einige Meter nach rechts von ihr entfernt auf der anderen Seite stand, war keiner da. Langsam ging sie auf ihn zu. Er war so in seine Schießerei versunken, dass er Margot nicht bemerkte, bis sie direkt vor ihm stand und winkte.
    Â»Oh!« Einen Moment lang war Margot eine blonde Schimpansin. Dann erwachte Tom aus seiner Traumwelt und sagte noch einmal: »Oh!« Margot lächelte ihn an.
    Tom hatte seine ersten vier Lebensjahre in einem warmen, liebevollen Zuhause westlich von Newcastle upon Tyne im Nordosten Englands verbracht. Doch als Armut und Tod sein Leben durchrüttelten, wurde er auf einmal in der Verwandtschaft herumgereicht, bis er schließlich – wie Margot – vor den schwarzen Türen von St.Anthonys stand. Mutterseelenallein und schutzlos den hier üblichen Schlägen ausgeliefert. Einzig seine Phantasie stellte einen gewissen Schutz dar.
    Seine guten Manieren hatte er nicht vergessen. Er streckte eine dreckige Hand aus. »Tom«, sagte er. »Wie heißt du?«
    Â»Margot«, antwortete sie und gab ihm nur zögernd die Hand. »Kann ich mit dir spielen?«
    Er dachte nach. Er kaute auf seiner Wange herum, die Hand auf die Hüfte gestützt, und schickte schnelle Blicke nach rechts und links. »Hier«, sagte er schließlich und reichte ihr ein unsichtbares Maschinengewehr. »Das ist ein Laser-Raptor. Damit kann man die Gesichter der Schimpansen schmelzen. Auf die Rüstungen brauchst du gar nicht erst zu zielen, die sind undurchdringlich.«
    Margot blinzelte ein paar Mal. »Peng, peng, peng!«, zischte Tom und zielte auf die gegenüberliegende Wand. Margot tat es ihm nach.
    Â»Oh nein!«, rief Tom, riss die Augen auf und ließ die Arme hängen. »Du hast keine Munition mehr! Komm, ich lade für dich nach.« Behutsam nahm er Margot die schwere Waffe ab und lud sie. Sorgenvoll sah er sie an. »Du wirst hier noch viel mehr als das brauchen, weißt du?« Er fasste sich an die Wade. Vorsichtig zog er etwas aus einer unsichtbaren Scheide.
    Â»Dies war das Schwert meines Vaters«, flüsterte er. »Es ist das Schwert Lennons. Damit kannst du ihnen das Herz herausschneiden.«
    Margot nickte und berührte vorsichtig die unsichtbare Klinge. Sie war wie in Trance und nahm darum gar nicht wahr, wie ich vor ihr auf und ab hüpfte und ihr zuflüsterte: Margot! Margot! Du musst zurück in die Krippe! Nun mach schon, geh zurück!
    Hilda Marx war im Anmarsch. Sheren war ihr

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