Tagebuch eines Engels
ist.«
»Warum?«, brachte ich schlieÃlich hervor.
Jetzt war Sheren es, die zitterte. Das ihr über den Rücken flieÃende Wasser färbte sich langsam rot. Tränen liefen ihr übers Gesicht bis zum Hals, wo sie sich wie eine Kette um ihre blassen Schlüsselbeine reihten.
Dann, endlich, erklärte sie: »Ich arbeite mit den Schutzengeln aller Kinder zusammen, die hier leben, um sicherzustellen, dass der Schaden, den dieser Ort â den Hilda â verursacht, später nicht allzu groÃen Schaden in der Welt anrichten wird. Dieser Ort hat bereits Mörder, Vergewaltiger und Drogenabhängige hervorgebracht. Wir können Hilda nicht aufhalten. Aber wir können versuchen, die Wunden in diesen kleinen Seelen so gut es geht zu heilen.«
Wir sahen Margot und Hilda nach, die die Treppe hinaufgingen. Wir folgten ihnen.
»Wie kann ich helfen?«
»Erinnerst du dich noch an die Gruft?«
Einen Moment lang glaubte ich, mich übergeben zu müssen. Ich hatte jeden Gedanken und jede Erinnerung an die Gruft in die hinterste Ecke meines Gehirns verdrängt. Die Gruft war das Ergebnis von Hildas teuflischer Kunst: ein winziger, von Ratten bevölkerter, fensterloser Raum, in dem ein Kind über fünf Jahren nicht aufrecht stehen konnte. In dem es nach Exkrementen, Verfall und Tod stank. Die Gruft war ganz besonderen Strafanlässen vorbehalten. Je nach Alter des Kindes wandte Hilda ihre bevorzugten Foltermethoden an: Nahrungsentzug, körperliche Züchtigung und Psychoterror durch schauerliche Geräusche, die im Morgengrauen durch ein Rohr im Boden erzeugt wurden und die die jungen, nackten, völlig verstörten und Hunger leidenden Insassen derartig in Angst und Schrecken versetzten, dass sie für den Rest ihrer Zeit am St.Anthonys in verängstigte, schreckhafte, mäuschenhafte Wesen verwandelt waren. Die Tür zur Gruft wurde jeden Tag einmal geöffnet â aber nur, um einen Eimer eiskalten Wassers über das nackte Kind zu gieÃen und eine kleine Schale mit Essen hineinzuwerfen â gerade genug, dass es nicht verhungerte. Ihre Lieblingsfoltermethode bestand darin, das zu bestrafende Kind nach ein paar Tagen aus der Gruft herauszuholen, wieder in den Schlafsaal zurückzubringen, es endlose Erleichterung empfinden zu lassen â nur um es dann, nach neuerlicher körperlicher Züchtigung, blutend und schreiend zur Gruft zurückzuschleifen, in die es dieses Mal für die doppelte Länge der Zeit geworfen wurde.
Ein Kind, das bei der Verbannung in die Gruft auch nur einen Funken Liebe in seiner Seele hatte, wusste bei seiner Entlassung aus diesem Loch ohne jeden Zweifel, dass Liebe nicht existiert.
Ich sah Sheren an. Sie wusste, dass ich mich sehr gut erinnern konnte. Hilda hatte dafür gesorgt, dass ich es nie vergessen würde. Sie streichelte mir übers Gesicht.
»Wir müssen immer mit in die Gruft, wenn Hilda ein Kind da reinsteckt.«
»Du willst, dass ich wieder da reingehe?«
Sie nickte, langsam. Sie wusste genau, was das für mich bedeutete, was sie da von mir verlangte. Sie berührte meine Handfläche mit ihren Fingerspitzen â was eine blitzschnelle Abfolge von Bildern vor meinem inneren Auge auslöste. Bilder aus Hildas Kindheit, die Sheren abgespeichert hatte. Bilder von ihrem jahrelangen Missbrauch durch fünf ältere Männer, von den ausgeklügelten Foltermethoden, denen sie durch diese Männer ausgesetzt war. »Das tut mir leid«, sagte ich schlieÃlich.
»Ich zeige dir das nur, damit du verstehst, wie aus Hilda Hilda werden konnte.«
»Wann fangen wir an?«
»Heute Abend steckt sie einen Jungen in die Gruft. Du bleibst bei Margot, bis ich dich rufe.«
»Okay.«
Das erste Kind, mit dem Margot Bekanntschaft machte, war ein siebenjähriger Junge namens Tom. Tom war klein für sein Alter, unterernährt und etwas schwer von Begriff. Doch er hatte eine lebhafte Phantasie, der er sich nach Meinung seines Klassenlehrers Mr. OâHare ein wenig zu oft hingab. Margot wurde mit deutlich jüngeren Kindern in die Kinderkrippe gesteckt, wo sie sich schon bald langweilte. Sie wollte zu den Beatles tanzen, wie sie es mit Karina getan hatte. Sie wollte mit den älteren Kindern Lieder lernen. Sie war sicher, dass die Kinder im Klassenzimmer gegenüber viel mehr Spaà hatten als sie, die sie mit mottenzerfressenen Teddys, Holzklötzen und Kleinstkindern,
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