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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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sei eine zentnerschwere Last von ihr genommen worden, und zwar keine Minute zu früh. Die Küchentür öffnete sich. Es war Graham. Sie wischte sich schnell mit dem Ärmel über die Augen und wandte sich ihm lächelnd zu.
    Â»Alles in Ordnung, Schatz?«
    Sie nahm ihr Glas. »Hatte nur ganz vergessen, was ich eigentlich hier wollte. Kennst mich ja.«
    Er nickte wenig überzeugt und wartete, bis sie ihm aus der Küche folgte.
    In jener Nacht schlief ich neben Margot und breitete mein Kleid wie einen Schutzschild über ihren Körper. Ich war stinksauer auf die anderen beiden Engel im Haus. Wenn wir drei zusammenhielten, konnten wir Grogor vielleicht mit vereinten Kräften loswerden. Aber sie wollten und wollten sich einfach nicht zeigen.
    Kurz vor Sonnenaufgang tauchte Grogor über mir auf und schwebte neben dem Lampenschirm wie eine Gewitterwolke mit einem Gesicht. Ich ignorierte ihn. Er wartete ein paar Minuten, bevor er mich ansprach.
    Â»Irinas Krankheit wird ihr qualvolle Schmerzen bereiten. Ein wirklich schrecklicher Tod. Unheilbar. Es sei denn, du bringst Margot hier weg – dann wird es ihr sofort viel besser gehen.«
    Ich hob den Kopf und funkelte ihn böse an. »Warum Irina?«, zischte ich. »Sie hat damit doch gar nichts zu tun. Das hier ist eine Sache zwischen dir und mir.«
    Er kam meinem Gesicht so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Ich biss die Zähne zusammen.
    Â»Zwischen dir und mir?«, fragte er. »Und wer, glaubst du wohl, steht zwischen dir und mir?«
    Ich wich zurück und umschlang Margot noch etwas fester. Als er zornig wurde und mit einem Teerklumpen nach mir warf, hob ich die Hand und errichtete einen Schutzschild um das Bett herum. Er glich einer Lichtkuppel und schluckte die schwarze Schmiere. Woraufhin Grogor sich in eine Rußwolke verwandelte und sich auf die Lichtkuppel legte, bis diese fast kein Licht mehr ausstrahlte. Ich musste mich sehr konzentrieren, um den Schutzschild aufrechtzuerhalten und Grogor daran zu hindern, ihn zu durchdringen. Irgendwann gab er auf. Er nahm wieder jene halb menschliche Form an und drückte gegen die Kuppel.
    Â»Nicht vergessen. Sie muss nicht sterben.«
    Aber was sollte ich denn tun? Jeden Tag, den Margot mit Irina verbrachte, wurde das Mädchen fröhlicher und glücklicher und kroch aus den emotionalen Fallgruben des Kinderheims. Es brach mir das Herz, zu sehen, wie die Krankheit in Irina wucherte. Schon bald klagte sie über Juckreiz. Eines Abends am Kamin wirkte ihre Haut im Schein des Feuers gelb und krank. Margot fiel das auf. »Geht’s dir gut, Irina?«, fragte sie immer wieder. Irina ging auf die Frage nicht weiter ein und entgegnete: »Sag Mama zu mir.«
    Margot verbrachte die Nachmittage damit, zu lesen oder sich aus ihrem Zimmerfenster zu lehnen und den Nachbarkindern sehnsüchtig beim Spielen im Garten zuzusehen. Wie gerne hätte sie Freunde gehabt! So taktvoll wie möglich sagte ich: »Verbring deine Zeit mit Mama, Margot. Du wirst es sonst bereuen.« Also schloss sie das Fenster und tapste nach unten in die Küche, wo Irina im Morgenmantel am Tisch saß und nur mit Mühe einen Becher Brühe trank. Ihre dünnen Arme waren zu schwach, um den Becher zu halten, ihr Hals so verengt, dass sie nur tropfenweise schlucken konnte. Schweigend setzte Margot sich ihr gegenüber. Sie nahm einen Teelöffel, tauchte ihn langsam in die Brühe und wollte Irina füttern. Irina legte ihre abgemagerte Hand jedes Mal um Margots, wenn sie den Löffel an ihre Lippen führte. Dabei sahen sie sich ohne Unterbrechung in die Augen, sprachen aber kein einziges Wort. Dies alles ging so langsam vonstatten, dass der letzte Rest Brühe ganz kalt war – und Margots Gesicht tränenüberströmt.
    Es fällt mir schwer, zu erklären, wieso ich Grogor aufsuchte. Es ging nicht einfach nur darum, dass ich den Schmerz, Mama zu verlieren, vermeiden wollte. Nein, es war eher so, dass Margot wie ein Kind für mich war, wie mein Kind. Das, was sie erlebte und fühlte, war immer öfter nicht identisch mit dem, was ich erlebte und fühlte. Wir fingen an, uns voneinander zu unterscheiden.
    Ich sagte Grogor, dass ich gehen, Margot aber bleiben würde. Ich sagte ihm, dass ich mit Nan reden und dafür sorgen würde, dass Margot einen anderen Schutzengel bekam, wenn das denn helfen würde. Ich wusste nicht mal, ob das

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