Tagebuch eines Engels
überhaupt möglich war, geschweige denn vernünftig, aber ich wollte es wenigstens versuchen. Ich konnte es nicht ertragen, wie Graham immer mehr in sich zusammenfiel, je häufiger Mama das Bett hüten musste.
Grogors Reaktion verwirrte mich. »Interessant«, sagte er. Und dann verschwand er.
Monatelang kämpfte Mama so tapfer, doch letztlich starb sie unter groÃen Schmerzen und wenig würdevoll. Doch ihr wurden kleine Gnaden zuteil. So tauchte ihr eigener Schutzengel etwas häufiger auf, vor allem gegen Ende. Er stärkte ihre Muskeln, damit sie aufrecht im Bett sitzen konnte, verschaffte ihr in ihren Träumen kurze Einblicke ins Himmelreich und brachte sie dazu, Graham und Margot die Dinge zu sagen, die sie so dringend hören mussten. Dass sie sie liebte. Dass sie immer bei ihnen sein würde. Und dass es vollkommen und absolut ausgeschlossen sei, dass Hamlet und Ophelia Geschwister waren. Wie Graham bloà auf so einen Quatsch komme, er solle sich mal seinen Kopf untersuchen lassen. Dagegen sei Margots Caliban-Theorie brillant: Caliban sei ganz bestimmt eine Frau gewesen.
Sie wurde an einem nebligen Montagvormittag im Oktober beerdigt. Eine Handvoll Trauernde, Engel sowie der Priester versammelten sich ums Grab. Als sie den Sarg in die Erde hinablieÃen, entfernte ich mich so weit wie möglich von der Trauergemeinde und weinte in mein Gewand. Doch dann drehte ich mich um und sah Margot, wie sie sich mit der Faust die Tränen wegwischte, und Graham, aschfahl und gebrochenen Blickes, und mir wurde klar: Ich muss den beiden helfen. Mit groÃen Schritten ging ich auf Margot zu, legte den Arm um ihre Taille und trug ihr auf, sich bei Graham unterzuhaken. Er stand links von ihr, ein Stückchen entfernt. Sie zögerte. â Ich weiÃ, dass es dir schwerfällt , sagte ich. Bis jetzt war Mama deine engste Vertraute. Aber Graham braucht dich jetzt. Und du brauchst ihn.
Sie atmete tief ein. Der Priester las aus der Bibel vor: »Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus â¦Â« Ich beobachtete Margot dabei, wie sie ganz langsam und vorsichtig den Arm nach Graham ausstreckte und sich behutsam bei ihm unterhakte. Die Berührung riss ihn aus seinen Gedanken, und als er begriff, was sie da machte, tat er einen Schritt zur Seite auf sie zu. Nun standen sie dicht beieinander.
»Alles in Ordnung, Papa?«
Graham blinzelte. Dann nickte er. Es lag an diesem neuen Wort, dieser neuen Anrede, »Papa«. Das gab ihm Kraft. Er legte seine schwielige Hand ganz fest auf ihre. Und ich schwöre Ihnen, da war ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Es dauerte Jahre, bis ich verstand, wie ein Dämon einen Menschen töten konnte. Nan erklärte mir später mal, nicht Grogor habe Mama getötet, sondern ihre Schuldgefühle wegen der Abtreibung damals. Oder zumindest hätten ihre Schuldgefühle jenem üblen Keim, den Grogor in sie pflanzte, fruchtbaren Boden geboten, sodass er Wurzeln schlagen und gedeihen konnte. Aber diese Erklärung war mir kein Trost. Eher im Gegenteil. Sie säte einen neuen Keim. Ich wollte Rache.
â 11 â
EIN KURZER FILM ZUM THEMA ARROGANZ
Also gut, ich sollte Sie warnen. Als Teenager war ich ganz bestimmt kein Engel.
Tut mir leid, ich konnte nichts dafür. Aber Sie wissen schon, was ich meine.
Ich war nicht älter als dreizehn, da reduzierte sich meine Welt auf eine kleine Tüte Klebstoff. Ich fand heraus, dass ich mit dem Zeug nicht nur Poster von Donny Osmond an die Wände kleistern, sondern mich auch von der schwermütigen Trauer, die sich seit Mamas Tod im Cottage breitgemacht hatte, befreien konnte. Ich ging noch nicht sehr lange zur örtlichen Schule, da wollte man mich auch schon wieder rausschmeiÃen. Papa kämpfte dagegen an. Und weil ich in englischer Literatur Klassenbeste war, lieÃen sie sich breitschlagen â unter der Voraussetzung, dass ich nicht mehr unentschuldigt fehlte und aufhörte, andere Kinder zum Schnüffeln anzustiften.
Einige Jahre schlich ich umher wie ein einsamer Wolf, schrieb nachts todtraurige Gedichte, um die Stille zu übertönen, hatte den falschen Umgang, sah Papa dabei zu, wie er den lieben langen Tag auf die Uhr am Kaminsims glotzte, die schon seit Ewigkeiten nicht mehr tickte. Dann, endlich, hatte er einen neuen Roman fertig. Ich las sein Manuskript und gab ihm ausführliches Feedback. Er amüsierte sich
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