Tagebuch eines Engels
über meine etwas frühreife Art, Lücken in der Handlung und schwach gezeichnete Figuren aufzuspüren.
Er riss die alte Schreibmaschine von seinem Schreibtisch und knallte sie auf meine Frisierkommode. »Schreib«, sagte er. Und ich schrieb.
Zunächst jede Menge Blödsinn. Dann ein paar richtige Kurzgeschichten. Dann Liebesbriefe. An einen schlaksigen Typen namens Seth Boehmer. Der weder stehen noch still sitzen konnte. Er schmierte so viel Gel in seine schwarzen Haare, bis sie ihm halb über dem Gesicht klebten wie der Flügel einer toten Krähe. Er sah nur selten mal jemandem in die Augen und hatte die Hände immer viel zu tief in den Taschen vergraben. Aber ich war sechzehn, und er war zwanzig. Er war stets mürrisch und fuhr viel zu schnell. Wie hätte ich mich nicht in ihn verlieben sollen?
Ich sah Margot dabei zu, wie sie sich selbst eine Grube aushob und dann auch prompt hineinfiel, nein, sprang . Ich verdrehte alle naselang die Augen und führte Selbstgespräche. Ja, ich war zynisch. Aber ich hatte das alles ja bereits erlebt, und jetzt hätte ich am liebsten in einer Tour gekotzt. Seth war eine Art Meilenstein: Ich erkannte langsam, wie weit ich mich von Margots Sturzflug in die Selbstzerstörung entfernt hatte.
Jetzt war ich allerdings erst mal alles andere als entzückt. Ich kam mir vor, als würde ich eine richtig schlechte romantische Komödie sehen â so eine, bei der die gesamte Handlung von Anfang an vorhersehbar ist und man nur auf die entsprechenden Einsätze des Streichorchesters wartet. So gesehen war es sterbenslangweilig. Aber ich hatte Angst. Ich sah Dinge, die ich vorher nie wahrgenommen hatte. Ich meine keine spirituellen Dinge. Ich meine: Die Folgen meiner Erlebnisse im Kinderheim St.Anthonys. Obwohl wir getan hatten, was wir konnten, um zu verhindern, dass jene Folgen das Leben der St.-Anthony-Kinder zerstörten, stellten sich einige eben doch ein. Seth war eine davon.
Margot begegnete Seth zum ersten Mal bei ihrer besten Freundin Sophie. Seth war Sophies Cousin. Er hatte bereits früh seine Eltern verloren und darum viele Jahre im Haus von Sophies Eltern gelebt, sodass er heute â trotz des groÃen Hofes, den er von seinen Eltern geerbt hatte â seine Abende viel lieber im vor Katzen wimmelnden Bungalow seiner Tante und seines Onkels verbrachte als bei sich zu Hause. Und seit bei Sophie hin und wieder Freundinnen übernachteten, brachte Seth auch gleich sein Bettzeug mit.
Ein kurzer Film zum Thema Arroganz:
Eine Küche. Dämmerung. Es herrscht eine gruselig angehauchte Atmosphäre. Ein sechzehnjähriges Mädchen kommt die Treppe herunter. Sie durchsucht die Schränke nach Paracetamol â sie hat Menstruationsschmerzen und kann deswegen nicht schlafen. Die dunkle Gestalt, die am Küchentisch sitzt und liest und raucht, sieht sie gar nicht. Die Gestalt beobachtet sie eine Weile. Das Mädchen war ihr â ihm â vorher bereits aufgefallen, als Sophie und die anderen Gören sich schminkten und aufbrezelten. Sie war groà (ungefähr eins fünfundsiebzig) und sechzehnjährig-schlank (Kugelbäuchlein, schmale Schenkel), hatte dickes, strohblondes, hüftlanges Haar, volle rosa Lippen, einen koketten Blick. Und eine ziemlich anzügliche Lache. Er sieht ihr dabei zu, wie sie die Schränke durchsucht, bevor er auf sich aufmerksam macht.
»Bist duân Einbrecher oder so was?«
Margot wirbelt herum und lässt dabei einige Schachteln Schmerztabletten fallen. Die Gestalt am Tisch lehnt sich nach vorn und winkt wie die Queen. Im Mondlicht kann sie erkennen, dass es Sophies Cousin ist. »Hey«, sagt er nur. Sie kichert.
»Hey«, erwidert sie verlegen. Viel zu verlegen für meinen Geschmack. »Was machst du denn hier unten?«
Statt zu antworten, klopft er mit der flachen Hand vor sich auf den Tisch. Gehorsam setzt sie sich ihm gegenüber. Er zieht sehr ausgiebig an seiner Kippe, um herauszufinden, wie viel Zeit sie ihm lässt. Wie kriegt er sie mit dem geringstmöglichen Aufwand in die Kiste? Sie macht es ihm wirklich leicht.
»Tja«, sagt er und kratzt sich mit dem Daumennagel die Koteletten. »Ich bin auf. Du bist auf. Meinst du nicht, wir könnten die Zeit sinnvoller verbringen, als hier rumzusitzen und den Mond anzuglotzen?«
Sie kichert wieder. Und dann, als er lächelt, höre ich mein eigenes Lachen in Teenagerausgabe. »Du meinst, wir
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