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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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stattfanden, drei Jahrzehnte später in einem keine zehn Kilometer entfernten Hotel zu Tode kam? Ja, gut, so was passiert. Aber nicht, solange ich hier die Aufsicht habe.
    Margot machte das Fenster zu, schlüpfte in ihre selbst genähte Schottenkarohose und einen Marinewollpulli und bürstete sich die langen Haare. Sie betrachtete sich in einem frei stehenden Spiegel. Ich stand hinter ihr und legte das Kinn auf ihre Schulter. »Mädchen, Mädchen«, seufzte ich. »Du musst dir mal neue Klamotten besorgen.« Sie schürzte die Lippen ein wenig, klopfte sich auf die Wangen, begutachtete ihre struppigen Augenbrauen. Sie wirbelte einmal um die eigene Achse – hatte ich bereits erwähnt, dass ihre Schottenkarohose hoch geschnitten und um die Hüfte herum ziemlich sackartig war? – und runzelte dann die Stirn. Ich auch.
    Bin ich wirklich mal so rumgelaufen? Warum hat mich keiner festgenommen?
    Unten im Laden stapelte Bob irgendwie irgendwelche Bücher, während er gleichzeitig ein Zimtbrötchen aß. Als Margot hereinkam, senkte er verlegen den Blick. Was er da von seiner Mutter geträumt hatte, war so realistisch und beängstigend gewesen, dass seine von Lüsternheit geprägte Idee, Margot einzusperren, wie weggeblasen war. Und ich konnte eine andere Seite von ihm kennenlernen. Er war ein Maulwurf in Menschengestalt. Von einer Art blinder Neugier geleitet, schlurfte er grunzend durch die engen Gänge zwischen den Bücherregalen und genoss die Abgeschiedenheit. Sein Engel – sein Großvater Zenov – folgte ihm mit auf dem Rücken verschränkten Armen und schüttelte hin und wieder missbilligend den Kopf angesichts des Chaos aus Buchseiten und Schutzumschlägen. Und wenn ich wirklich ganz genau hinsah, konnte ich erkennen, wie links und rechts von ihm Parallelwelten auftauchten, zunächst unklar wie auf einem Fernsehbildschirm unter Wasser, dann jedoch immer deutlicher, je mehr ich mich konzentrierte: In der einen versteckte Bob, das Kind, sich vor den Fäusten seines Vaters im Kleiderschrank, in der anderen stapelte er als einsamer, seniler Rentner immer noch Bücher. Daraufhin hatte ich ein bisschen Mitleid mit ihm.
    Er bot Margot Tee an, den sie dankend ablehnte, und zeigte ihr dann den Buchladen. Ach, entschuldigen Sie, sagte ich gerade Buchladen? Ich hätte Fundgrube literarischer Schätze sagen sollen. Der Kerl benutzte hundert Jahre alte Plautus-Ausgaben, um seinen Billardtisch aufzubocken. Unter dem Tresen fingen handsignierte Gedichtbände von Langston Hughes Staub. Eine Achmatowa-Erstausgabe missbrauchte er als Bierdeckel. Während Bob sich nörgelnd darüber beklagte, dass das Geschäft nicht lief, gelang es mir, Margots Aufmerksamkeit auf ebendiese Ausgabe zu lenken. Sie nahm sie in die Hand und studierte den Umschlag.
    Â»Wissen Sie, wer das hier ist?«
    Es verging mindestens eine Minute, bevor er fragte: »Wer?«
    Â»Die Frau auf dem Buchumschlag.«
    Â»Hey, du hast wirklich einen niedlichen Akzent, Mädchen.«
    Â»Das ist Anna Achmatowa. Eine der größten Dichterinnen des Jahrhunderts.«
    Â»Aha.«
    Â»Und das hier« – zielsicher zog sie eine Shakespeare-Werkausgabe aus einem Regal und schlug sie auf – »ist eine Originalunterschrift von Sir Laurence Olivier. Hier verbergen sich Schätze, die es mit dem Bestand der besten literaturwissenschaftlichen Fakultäten der Welt aufnehmen können.«
    Erwartungsvoll sah sie ihn an. Ich nickte. Wie recht sie hatte. Bob verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
    Â»Wie lange liegt das schon hier rum?«
    Bob hob kapitulierend die Hände. Ȁh, keine Ahnung …«
    Sie ging noch mehr Regale durch. Bob sah mit einem Blick zur Tür, als erwarte er jeden Moment den Rest der spanischen Inquisition. Margot hörte auf zu stöbern und stemmte die Hände in die Hüften.
    Â»Hm«, machte sie und ging auf und ab. Damit war Bobs Neugier endgültig entfacht.
    Â»Was? Was denn?«
    Sie blieb stehen und zeigte nachdenklich auf ihn. Er zog das T-Shirt bis hinunter zum Gürtel. »Sie brauchen ein paar neuere Sachen«, sagte sie.
    Â»Wie jetzt? Klamotten?«
    Â»Nein! Bücher. Sie haben zu viele Klassiker hier herumstehen.« Sie ging wieder auf und ab. »Trödel. Wo gibt’s hier so was?«
    Â»Wo es Trödel gibt?«
    Â»Ja, ich meine Trödelmärkte. Flohmärkte. Wo man den

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