Tagebuch eines Engels
Farbe hat mit deinem Fortschritt auf deiner spirituellen Reise zu tun. Sieht so aus, als hättest du einen wichtigen Meilenstein erreicht. Blau ist eine gute Farbe.«
»Aber was hat es damit â¦Â«
Sie blieb stehen und sah mich sehr ernst an.
»Wir müssen über die beiden da reden.« Sie sah zu Margot und Tom, die angeregt plauderten und verlegen flirteten.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Nicht Ohr. Sei Auge. Sieh hin.«
Die Wolken über der Lenox Avenue, über den bulimischen Mülltonnen und den maroden Gebäuden teilten sich und gaben den Blick auf eine Vision frei.
Sie zeigte einen kleinen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, mit dreckverschmiertem Gesicht und Klamotten, die an einen StraÃenjungen um 1850 erinnerten: Baskenmütze aus Tweed, schmuddeliges Hemd, kurze Hosen und ein zerschlissener Blazer. Er streckte die Arme nach oben und machte den Mund auf, als wolle er singen. Nur eine Sekunde später sah ich ihn auf einer Bühne stehen. Inmitten des hundertköpfigen Publikums sah ich die schwarze Frau in dem Maxikleid, der wir bereits begegnet waren. Sie war jetzt etwas älter und kurzhaarig. Ihre Augen funkelten, während sie intensiv zur Bühne blickte. Da wurde mir klar: Der Junge auf der Bühne war ihr Sohn. Der Vorhang fiel, der Junge rannte von der Bühne und warf sich in die Arme seines Vaters. Tom.
»Und, hast du schon durchschaut, wieso ich hier bin?« Nan zog eine Augenbraue hoch.
»Du willst, dass ich jeglicher romantischen Verwicklung zwischen Margot und Tom einen Riegel vorschiebe?«
Nan schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du dir das ganze Puzzle sehr genau ansiehst, bevor du an einzelnen Teilchen herumfummelst. Du weiÃt ja schon, wen Margot heiraten wird. Und jetzt hast du auch gesehen, wozu Toms Entscheidungen führen werden.«
»Aber er hat sich doch noch gar nicht entschieden! Und Margot auch nicht.« Ich hielt inne und holte tief Luft. Ich wurde wütend. »Jetzt hör mal zu, ich bin doch nicht ohne Grund mein ⦠Margots Schutzengel, und ich glaube, der Grund ist, dass ich nur allzu gut weiÃ, was sie besser getan und was sie besser gelassen hätte. Zum Beispiel hätte sie Toby besser nicht geheiratet.«
Nan zuckte mit den Schultern. »Und warum?«
Ich sah sie forschend an. Warum ? Ja, wo sollte ich denn da bitte mit der Antwort anfangen?
»Glaub mir«, sagte ich. »Toby und ich ⦠wir haben einander nicht gutgetan. Wir haben uns getrennt, ja? Also warum sollte ich Margot eine Ehe schlieÃen lassen, die sowieso scheitern wird, hm?«
Nan zog wieder eine Augenbraue hoch. »Und du glaubst, dass eine Ehe mit Tom anders laufen würde?«
Ich schloss die Augen und atmete frustriert aus. Genauso gut konnte ich versuchen, einem Neandertaler was über Neurologie zu erzählen.
»Ãbrigens habe ich die Sache mit dem Lied der Seelen gelernt«, sagte ich schlieÃlich.
Sie sah mich direkt an. »Ach ja? Und? Hat es funktioniert?«
Ich blieb stehen. »Es gibt noch was anderes als das Lied der Seelen, stimmtâs? Es gibt da noch mehr. Ich kann tatsächlich etwas ändern.«
»Ruth â¦Â«
»Ich kann herausfinden, wer mich umgebracht hat, und ich kann es verhindern. Ich kann den Lauf meines Lebens ändern â¦Â«
Wir standen vor der Lenox Lounge.
Nan sah mir in die Augen. »Es gibt so vieles, was man als Schutzengel tun kann, insbesondere du. Es hat aber nichts mit âºich kannâ¹ zu tun. âºIch kannâ¹ ist ein menschliches Konzept, ein Mantra des Egos. Du bist ein Engel. Was jetzt zählt, ist allein Gottes Wille.« Und damit begann sie sich zu entfernen.
»Verrate mir, warum, Nan«, sagte ich. »Ich habe Gott bis jetzt noch nicht mal gesehen. Warum sollte ich nicht etwas ändern, wenn ich doch genau weiÃ, wie viel besser die Dinge sich hätten entwickeln können?«
»WeiÃt du es denn wirklich so genau?«
Ihr mitleidsvoller Blick entwaffnete mich.
Ein bisschen weniger selbstsicher sprach ich weiter: »Obwohl ich tot bin, kann ich Margots Leben stellvertretend für sie erleben. Vielleicht kann ich dann auch Dingen eine andere Richtung geben, sodass ich nicht in der Blüte meines Lebens sterbe und die Beziehung zu meinem Sohn in Trümmern zurücklasse, sondern stattdessen ein biblisches Alter erreiche und Gutes tue â¦Â«
Nan schickte sich an, zu verschwinden,
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