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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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zum ersten Mal seit Langem wieder das Lied der Seelen. Ruf Papa an , wirkte ich auf Margot ein, doch der Gedanke ging in ihrer allgemeinen Aufregung unter wie ein Stein. Papa anrufen?, dachte sie. Aber dafür habe ich doch gar keine Zeit  … Ich muss noch so viel erledigen, bevor er kommt  … Ich insistierte, und schließlich gab sie nach.
    Ich hörte zu und vergoss Tränen der Freude und der Trauer über diesen Anruf, den ich nie tätigte. Ich war erleichtert, dass irgendjemand da draußen es mir irgendwie ermöglicht hatte, nun doch mal ein paar Puzzlestücke ein kleines bisschen zu verschieben – und zwar gerade genug, um die Dinge sagen zu können, die ich nie gesagt hatte.
    Â»Papa!«
    Heiseres Räuspern und Husten. Sie hatte wieder einmal die Zeitverschiebung vergessen. Aber egal.
    Â»Papa, Toby hat es mir gerade erzählt! Wie lange bleibst du?«
    Theo fing an zu krähen.
    Â»Ist das mein Enkel, den ich da hören kann?«
    Toby kam mit Theo zu Margot, und sie hielt den Telefonhörer ganz nah an das Kind. Als der Kleine einen von Tobys Fingern fand, fing er sofort an, heftig daran zu saugen.
    Â»Ich glaube, er hat Hunger«, flüsterte Toby.
    Sie nickte. »Ich muss auflegen, Papa. Ich freue mich so, dich morgen zu sehen! Gute Reise, Papa.«
    Schweigen.
    Â»Papa?«
    Â»Ich liebe dich, mein Mädchen.«
    Â»Ich liebe dich auch, Papa. Bis morgen.«
    Â»Bis morgen.«
    Die ganze Nacht, während Margot sich schlaflos vor Aufregung im Bett herumwälzte, ging ich im Zimmer auf und ab und war einerseits grenzenlos erleichtert, dass ich jenes Puzzlestück, das immer gefehlt hatte, einfügen konnte, und andererseits enorm bedrückt angesichts dessen, was nun folgen würde. Denn ich wusste ja, dass ich nur in sehr begrenztem Maße etwas verändern konnte. Es gab so vieles, auf das ich überhaupt keinen Einfluss hatte.
    Es war Mrs. Bieber, Grahams Nachbarin, die schon früh am nächsten Morgen anrief, um Margot so schonend und einfühlsam wie möglich mitzuteilen, dass in aller Herrgottsfrühe ein Taxifahrer bei ihr angeklopft habe. Er hatte Graham auf der Stufe vor seinem Haus sitzend vorgefunden, mit der Hand auf seinem Koffer, kalt und steif. Er war einfach eingeschlafen, sagte sie, ganz ohne Schmerzen.
    Margot war untröstlich. Sie schloss sich in dem kleinen Badezimmer ein, wo ich mich neben sie setzte und die gleichen Tränen weinte, die ihr auf die Hände tropften.
    Seinerzeit war ich davon überzeugt, dass die Gefühle, die kurz nach Theos Geburt einsetzten, von mir selbst hervorgerufen worden waren. Als ich jetzt beobachten konnte, wie die Hormone sich in Margots Kopf verknoteten, und Zeugin dessen wurde, wie die Nervenzellen sich immer mehr beschleunigten, bis sie kollidierten, wurde mir klar, dass sich mir da das physiologische Porträt einer postnatalen Depression bot. Jedes Mal, wenn Theo schrie – und das tat er oft, manchmal stundenlang –, rollte eine rote Welle durch ihren Körper, und ihre Nervenzellen bewegten sich immer schneller, bis ihr ganzer Körper von innen heraus bebte. Es kam ihr vor, als würde sie den ganzen Tag nichts anderes tun, als Theo zu stillen. Jeden Tag. Sie war blutarm – obwohl die Ärzte ihr versicherten, dass sie das nicht sei –, und eine Entzündung am Muttermund machte ihr zu schaffen, die niemand bemerkt hatte. Und auf einmal hasste sie Toby. Sie hasste ihn, weil er die magische Gabe besaß, tief und fest schlafen zu können, während das Baby in der Wiege direkt neben ihm schrie. Sie hasste ihn, weil er sich nicht in eine Milch und Blut absondernde Babymaschine hatte verwandeln müssen. Sie hasste ihn, weil sie erschöpft und verwirrt war und allein beim Gedanken daran, einen weiteren Tag dieses Chaos ertragen zu müssen, eine Heidenangst bekam.
    Ich sah dabei zu, wie Toby sich bemühte, ihr alles recht zu machen. Und dann gab es eine angenehme Überraschung: Tobys Buch, Schwarzes Eis , wurde zu einem nationalen Bestseller. Natürlich wusste ich das. Ich hatte es damals aber erst Monate später erfahren. Toby ging ans Telefon und dankte seinem Verleger, während er Margot dabei beobachtete, wie sie zum siebten Mal in einer Stunde verzweifelt versuchte, Theo anzulegen. Ihr Gesicht war verheult. Jetzt sah ich ganz deutlich, was ich damals nicht verstehen konnte: Theo bekam keine Milch. Zwar produzierte er

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