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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Schlucklaute, aber er schluckte nur Luft. Sein kleines Bäuchlein schmerzte also vor Hunger, während Margots Brüste fast platzten vor überschüssiger Milch.
    Â»Tu doch was!«, zischte ich James zu.
    Er sah mich kurz an. »Versuch ich doch.«
    Gaia mischte sich ein. »Lass mich mal versuchen.« Sie flüsterte Toby etwas zu.
    Er legte auf und ging zu Margot.
    Â»Liebling?«
    Sie ignorierte ihn. Er legte ihr einen Arm sachte auf die Schulter.
    Â»Margot?«
    Â»Was ist?«
    Â»Wie wär’s, wenn du mal ein paar Stunden rausgehst, an die frische Luft. Ich passe so lange auf das Baby auf.«
    Sie sah zu ihm auf. »Du hast keine Brüste, Toby. In zehn Minuten muss er wieder gestillt werden.«
    Toby lächelte. »Ich kann ihn doch mit Pulvermilch füttern. Na los schon, geh doch mal zum Friseur oder so. Gönn dir was. Lass es dir gut gehen.«
    Sie sah ihn an. »Meinst du das ernst?«
    Â»Vollkommen.«
    Â»Aber wir haben doch kein Geld.«
    Er sah zur Seite. Er war ein schlechter Lügner, selbst wenn es um gute Lügen ging. »Sagen wir so: Ich habe eine kleine Reserve für Situationen wie diese.«
    Â»Wirklich?«
    Â»Wirklich.«
    Â»Wie viel?«
    Â»Hör auf, Fragen zu stellen! Nimm das Scheckheft und mach dich auf den Weg. Geh zur Kosmetikerin, zur Pediküre – was auch immer ihr Frauen braucht, damit es euch gut geht. Na los, raus hier.«
    Margot hatte die Wohnung schneller verlassen, als man »Ganzkörpermassage« sagen konnte.
    Ich folgte ihr die Treppe hinunter, die Straße entlang, hin zur Bushaltestelle. Meine Flügel pulsierten heftig, als sie mir mitteilten: Sieh zu, dass sie zu Fuß geht. Sie soll nicht mit dem Bus fahren.
    Warum?, dachte ich. Ich sah dem sich nähernden Bus entgegen. Warum soll sie nicht mit dem Bus fahren?, fragte ich, aber ich bekam keine Antwort. Gut, dachte ich. Wenn ihr euch taub stellt, tu ich das auch.
    Wir setzten uns ganz hinten hin. Margot drückte sich einen Waschlappen auf die Stirn. Die Schmerzen in der Brust erfuhren leichte Linderung von der kühlen Brise, die durch das offene Fenster hereinzog. Der Bus hielt an der 11th Avenue. Es stieg eine Handvoll Fahrgäste ein. Einer von ihnen kam zu uns nach hinten und setzte sich uns direkt gegenüber. Mir drehte sich der Magen um.
    Die Frau war das Ebenbild von Hilda Marx. Das auf dem Kopf aufgetürmte, grell orangefarbene, von Silberfäden durchzogene Haar, die ewig rote Nase, der Bulldoggen-Unterbiss. Ich sah, wie Margot scharf einatmete und die Frau anstarrte, während diese ihren Mantel – einen schwarzen Trenchcoat, ganz ähnlich dem, den Hilda draußen getragen hatte – ablegte und Kieferbewegungen machte wie Hilda. Es vergingen ein paar Sekunden, dann war klar, dass diese Frau nicht Hilda war. Eine andere Frau im Bus erkannte sie und sprach sie mit Karen an. Sie lächelte und plauderte mit der Bekannten, und schon hatte ihr Gesicht einen ganz anderen Ausdruck. Ihrer Sprache nach zu urteilen stammte sie aus New Jersey.
    Natürlich hätte ich mich daran erinnern sollen. Hilflos sah ich dabei zu, wie Margot ihren Gedanken an St. Anthonys nachhing. Ihre Haut kribbelte, als sie sich an die Gruft erinnerte. Die Angst, die Erniedrigung und die Hoffnungslosigkeit, die ihre Erinnerungen an jenes Heim durchdrangen, stiegen jetzt wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins, wie ein Schiffswrack, das mitsamt seinen Wasserleichen aus der Tiefe aufsteigt und deren aufgedunsene Gesichter dem Sonnenlicht preisgibt. Sie starrte auf ihre Füße hinab und keuchte. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern und beruhigte sie: Du bist im Hier und Jetzt. Alles andere liegt hinter dir. Du bist in Sicherheit. Sie atmete langsam und tief und bemühte sich, die vielen Bilder zu ignorieren, die auf sie einstürzten: Hilda, die sie mit einem Kohlesack prügelt. Hilda, die sie aus der Gruft zerrt, um sie gleich darauf wieder hineinzuwerfen. Hilda, die ihr einredet, sie sei ein Nichts.
    Margot stieg an der nächsten Haltestelle aus und entfernte sich schnellen Schrittes. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wohin sie ging. Die Idee mit der Massage war längst vergessen. Stattdessen wünschte Margot sich nichts sehnlicher, als sich sinnlos zu betrinken. Am liebsten hätte sie Xiao Chen angerufen und wäre mit ihr in die Unibar gegangen. Und schon hatte Margot beschlossen, allein hinzugehen.
    Okay,

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