Tagebuch eines Engels
versucht, Geschichten zu schreiben wie sein Dad, ist aber Legastheniker. Er ärgert sich über seine umgedrehten Buchstaben und Rechtschreibfehler.
Margot schreit Theo an, er solle aufstehen. Sie war es, die vergessen hatte, ihn zu wecken, aber auch das vergisst sie, und er krabbelt aus dem Bett und geht ins Badezimmer. Er will pinkeln, doch Margot schubst ihn zur Seite, weil sie hinter dem Spülkasten etwas sucht. Er blafft sie an. Sie blafft zurück. Sie hat rasende Kopfschmerzen, und durch ihn werden sie nur noch schlimmer.
»Du machst sowieso alles nur schlimmer«, hält sie ihm vor. »Immer schon.«
»Was meinst du damit?«, schreit er.
»Was ich meine? Ich meine, mein Leben wäre deutlich angenehmer, wenn es dich nicht gäbe. Mein Leben wäre deutlich angenehmer, wenn du nie geboren worden wärest.«
»Gut. Dann gehe ich eben zu Dad.«
Er zieht sich an und knallt die Tür zu, und nach der Schule kommt er wieder nach Hause, und keiner redet.
Theos entscheidender Moment war nicht der, als Margot verkündete, sie wünschte, er sei nie geboren worden. So was hatte er sich schon lange anhören müssen. Nein. Theos entscheidender Moment lieà noch ein bisschen auf sich warten, aber die Wartezeit begann mit dem Anblick einer verzweifelt nach Wodka suchenden Margot. Obwohl er längst durchschaut hatte, dass seine Mutter eine Säuferin und komplett durchgeknallt war, und obwohl er sich fragte, wieso sein Vater diese Frau überhaupt jemals geheiratet hatte, stellte er sich lange Zeit diese eine Frage: Was ist bloà so toll an diesem Zeug, dass sie so verzweifelt danach sucht?
Die Antwort lieà etwas auf sich warten, aber er fand sie, als er zehn Jahre alt war und eine offene Flasche Jack Daniels vor sich hatte:
Klar.
Und diese Antwort hatte Konsequenzen: Volltrunkenheit. Im Zustand der Volltrunkenheit dann eine Prügelei mit einem Jungen, der jünger war als er. Einem Jungen, der jünger war als er und ein Messer bei sich hatte. Ein Messer, das plötzlich Theo in der Hand hatte. Ein Messer, das im Bauch des anderen Jungen endete.
Das New Yorker Jugendgericht entschied, Theo müsse einen Monat in den Jugendknast. Wo er mit anderen jugendlichen Straftätern zusammen war. Jugendliche Straftäter, die wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung einsaÃen. Delikte, die sie nun an ihren Mitinsassen ausübten. Unter anderem an Theo.
Das erfuhr ich von James. Als er nach einem Monat mit Theo wiederkam, war seine Miene versteinert, und aus seinen Flügeln floss Blut. Als ich Theo sah, weinte ich mit James. Rund um Theos bronzefarbene, schimmernde Aura hatte sich ein Panzer des Schmerzes gelegt, der so massiv war, dass Theo unter seinem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Als ich genauer hinsah, erkannte ich seltsame Tentakel, die von dem Panzer nach innen reichten, Theos Aura durchschnitten und bis zu seinem Herzen reichten. Wie ein steifer, unnachgiebiger Fallschirm, der um ihn gewickelt und an seiner Seele festgeschnallt war. Es war die schlimmste emotionale Festung, die wir alle je gesehen hatten â Theo machte sich selbst zu einem Gefangenen seines Schmerzes.
Tagelang sprach er weder mit Margot noch mit Toby. Er stellte seine Taschen in seinem Zimmer ab, kramte dann die Steakmesser ganz hinten aus der Küchenschublade hervor und versteckte sie unter seinem Bett. Als der Psychologe anrief, drohte Theo damit, aus dem Fenster zu springen, falls dieser versuchen sollte, mit ihm zu reden.
In jener Nacht sah ich, wie Theos Albträume das ganze Zimmer ausfüllten. Frische Erinnerungen an seine Peiniger im Jugendknast. Zwei Jungs, die ihm mit einem von einem Besucher hereingeschmuggelten Schlagring in den Bauch boxen. Ein weiterer, älterer Junge, der seinen Kopf unter Wasser drückt, bis er bewusstlos wird. Derselbe Junge, der ihm nachts ein Kissen aufs Gesicht drückt. Derselbe Junge, der ihn vergewaltigt.
Und als wäre das nicht schon genug, tanzten zwischen den vielen Albtraumfilmen auch Bilder paralleler Welten herum und gewährten mir Einblicke in Theos Leben als älterer Mann, mit einem über und über tätowierten Körper und Handgelenken, denen man diverse Selbstmordversuche ansehen konnte. Erst war ich erleichtert, als ich bemerkte, dass er als Erwachsener nicht mehr im Gefängnis war. Doch dann sah ich, wie er sich eine Pistole in die Hose steckte, den Kofferraum seines Autos öffnete und
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