Tagebuch eines Engels
Mutter gewachsen war. Um zu beweisen, dass sie das alleinige Sorgerecht oder zumindest â schlimmstenfalls â das gemeinsame Sorgerecht verdient hatte. Kein Problem, sagte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das wirklich wollte. Sie wusste nur, dass sie etwas für sich erreichen wollte, irgendetwas, nur um zu beweisen, dass sie noch nicht alles verloren hatte.
Margot begab sich also in die Obhut von Riverstone, einer vornehmen Entzugsklinik in der Nähe der Hamptons, und ich befand mich auf einmal ganz allein in ihrer Wohnung, durchstöberte ihren Kleiderschrank, trank ihre Milch und nahm einfach ihren Platz in der Welt ein. Theo war bei Toby, der ganz in der Nähe wohnte. An jenem ersten Tag war ich vollkommen fasziniert davon, meine Haut und meine Haare zu spüren, warm und kalt, und das Gefühl von Hunger, während ich mir eine Pizza bestellte.
Als ich die groÃe Pfannenpizza mit extra viel Peperoni und Käse zerschnitt, geriet meine Daumenspitze unter das Messer. Ich musste an ein Plath-Gedicht denken â »Kleiner Pilger, skalpiert von der Axt der Indianer« â, und dann quoll auch schon das Blut aus dem weiÃen Fleisch und lief mir wie rote Tinte am Arm hinab. Ich wusste kaum mehr, was ich dagegen tun sollte, bis mir die Vase mit den Sonnenblumen auf dem Esstisch auffiel und ich meine Hand hineinhielt. Die Wunde pochte und brannte.
Es war alles viel schwieriger. Wenn ich einen Tisch ansah, konnte ich nicht durch ihn hindurch ins Nachbarzimmer sehen. Ich sah auch nicht die Spuren der Menschen, die einst dort gesessen hatten, oder die Holzmaserung unter der Farbe. Ich sah die Zeit nicht wie einen Sandsturm aus Wellen und Teilchen. Hätte mich in der Nacht jemand beobachtet â er hätte ganz sicher die Männer in den weiÃen Kitteln geholt. Ich verbrachte eine Menge Zeit damit, mich Zentimeter für Zentimeter mit der Wange direkt an den Wänden entlangzuschieben, beeindruckt von der plötzlichen vertrauten Materialität dieser Welt. Ich klopfte gegen die Backsteine und erinnerte mich an die Illusion von Grenzen, die das sterbliche Leben durchziehen, und die tiefe, bedingungslose Akzeptanz, die man aufbringt, sobald man in einem Körper aus Fleisch und Blut steckt.
Vielleicht bestand mein gröÃtes Verbrechen darin, Margot zu verlassen, sie in einer Zeit ihres Schutzengels zu berauben, in der sie ihn am nötigsten brauchte. Nur ungern wandte ich mich an Nan. Ich wusste ja genau, was mich da erwartete.
Ich hörte ihre Stimme wie aus einer weiten Entfernung â als befände die Sprecherin sich am Ende des langen Flurs.
»Begreifst du, was du getan hast?«
Ich sah mich um. »Wo bist du?«
»Neben dem Tisch.«
Ich blinzelte. »Warum kann ich dich nicht sehen?«
»Weil du einen Handel mit einem Dämon eingegangen bist. Einen Handel, der bedeuten kann, dass du alles verlierst und nichts gewinnst.«
Ihre Stimme bebte, so gefühlsgeladen war sie. Ich ging zum Tisch. Dann konnte ich sie endlich sehen. Sie stand hinter der Vase mit den Sonnenblumen und sah aus wie durchs Fenster fallendes Mondlicht.
»Ich wusste, dass du das nicht verstehen würdest, Nan«, seufzte ich. »Aber es ist ja nicht für die Ewigkeit. Ich habe sieben Tage Zeit, um gewisse Fehler zu korrigieren.«
»Möglicherweise hast du nicht einmal sieben Stunden Zeit«, entgegnete sie.
»Was?«
Das sie umgebende Licht zitterte, als sie einen tiefen Seufzer ausstieÃ. »Du bist so verletzlich wie ein Papierboot in einem Tsunami. WeiÃt du eigentlich, dass du dich zu einer Dämonen-Zielscheibe gemacht hast? Du kannst dich nicht mehr gegen sie zur Wehr setzen wie ein Engel, aber dir fehlt auch der gottgegebene Schutz eines Menschen, weil du jetzt nämlich weder Mensch noch Engel bist. Jetzt bist du nichts anderes als Grogors Marionette. Er wird nicht abwarten, ob Gott dich nun in die Hölle schickt oder nicht. Er wird höchstpersönlich versuchen, dich hineinzubefördern.«
Ich schwieg, um das Gesagte zu verdauen. Meine Knie gaben fast unter mir nach, als ich es endlich begriff.
»Hilf mir«, flüsterte ich.
Sie streckte den Arm aus und nahm meine Hand. Ihre stets dunkle und faltige Haut glitzerte wie feiner Nebel.
»Ich werde tun, was ich kann.«
Und damit lieà sie mich wieder allein, allein mit dem Blick über die Stadt, den ich hilflos wahrnahm, während ich mich nach der
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