Tagebuch eines Engels
Anwesenheit von Erzengeln sehnte.
Ich schlief lange, manövrierte mich mühsam aus dem Bett und verbrannte mich dann unter der Dusche, weil ich vergessen hatte, dass Rot heià bedeutete und Blau kalt. Ich zog mir ein Paar von Margots Jeans und ein schwarzes Hemd an und suchte dann nach Schminksachen. Ich blickte in den Spiegel: Ich sah jünger aus, als Margot es jetzt war. Etwas schlanker, etwas gesünder. Meine Haare waren länger und dunkler, meine Augenbrauen heller und leider breiter als ihre. Ich fand Lippenstift, eine Pinzette und Rouge. Dann kippte ich mir eine Flasche Bleichmittel auf den Kopf und konnte nur hoffen. Als Nächstes eine Schere. Als ich mit allem fertig war, hatte ich die drohende Dämonengefahr völlig vergessen und war fest entschlossen, mich an meinen Plan zu halten.
Ich trat hinaus in die kühle Manhattaner Morgenluft und wollte eigentlich mit dem Bus zu Theos Schule fahren, aber dann genoss ich die frische Brise in meinem Gesicht so sehr, dass ich die dreiÃig Blocks zu Fuà ging. Eine mir entgegenkommende Frau sagte »Guten Morgen« und ich erwiderte: »Ja, ein wunderbarer Morgen!« Ein Obdachloser bat um Kleingeld, und ich blieb stehen und sagte ihm, wie glücklich er sich schätzen könne, leben zu dürfen. Mit offenem Mund sah er mir nach, als ich lachend weiterging und mich daran erfreute, dass ich mit den Menschen reden konnte, dass sie mich hören konnten, mir zuhörten und antworteten.
Ich verlangsamte den Schritt, als ich mich dem Tor zu Theos Schule näherte. Ich musste mir sehr genau überlegen, was ich als Nächstes tat. Denn das hier war kein Traum mehr, kein Brief, den ich umschreiben, kein Auftritt, den ich wiederholen konnte. Es fühlte sich an, als würde jedes Wort, jede Handlung jetzt in Stein gemeiÃelt. Nein, es fühlte sich noch viel gröÃer an, viel gewichtiger. Es fühlte sich an, als würde ich in den Stein schneiden, in den bereits gemeiÃelt wurde. Und wenn ich nicht aufpasste, könnte der Stein auseinanderbrechen.
Ich überlegte, bis Schulschluss zu warten, Theo am Tor abzufangen und ihn dann zu einem Spaziergang einzuladen. Aber was sollte ich tun, falls Toby aufkreuzte? Oder falls Theo mich sah und abhaute? Ich beschloss, doch ins Schulgebäude hineinzugehen und ihn aus der Klasse zu holen. Wenn sein Lehrer ihm sagte, dass er mit mir hinausgehen sollte, dann würde er es wahrscheinlich tun, wenn auch widerwillig.
Ich meldete mich im Sekretariat an. Ich erkannte Cassie wieder, die Schulsekretärin mit den schweren Augenlidern, und lächelte sie entwaffnend an. Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Ich erinnerte mich, dass wir uns schon ein paarmal über den Weg gelaufen waren. Sie musterte mich von Kopf bis FuÃ, schürzte die Lippen und sagte:
»Kann ich Ihnen helfen?«
Unwillkürlich musste ich kichern. Ich war immer noch ganz hin und weg, weil die Leute alle mit mir redeten. Aber sie dachte wahrscheinlich, ich sei high.
»Hallo, guten Tag! Ãh. Ja. Ich bin Ruth ⦠nein, Entschuldigung. Stimmt nicht. Ich bin Margot. Margot Poslusny.«
Sie sah mich aus weit aufgerissenen Augen an. Gut, ich habe gerade Mist gebaut. Ich bin Margot, Margot, Margot, bläute ich mir selbst ein. Und dann fiel mir auf, dass ich das wohl laut gesagt hatte, denn Cassie fiel fast die Kinnlade herunter.
»Ich bin die Mutter von Theo Poslusny«, fuhr ich fort. Ganz langsam, als wäre Englisch eine Fremdsprache für mich. »Ich müsste ihn bitte mal eben aus dem Unterricht holen. Es geht um einen Notfall in der Familie.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Reden ist verdammt gefährlich, dachte ich. Cassie nahm den Telefonhörer und wählte. Die Chancen standen fifty-fifty. Entweder rief sie in der Psychiatrie an oder in Theos Klassenzimmer.
»Ja, hier ist das Sekretariat. Theo Poslusnys Mutter steht hier und möchte gerne mit ihm reden. Hmhm. Schön.«
Sie legte auf, blinzelte mich an und sagte dann:
»Er ist auf dem Weg.«
Ich salutierte und schlug die Fersen gegeneinander. Fragen Sie mich nicht, wie ich zu solchen Faxen kam â Tourette-Syndrom? Ich sah mich um, entdeckte einen Stuhl, schoss darauf zu, setzte mich, schlug die FüÃe übereinander und verschränkte die Arme.
Und dann kam Theo. Der Rucksack hing ihm von einer Schulter, das blaue Hemd aus der Hose. Die roten Haare hatte er mit Pomade in Form gebracht. Theo
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