Tagebuch eines Engels
hatte die gleichen fleckig verteilten Sommersprossen wie sein Vater, seine Nase war noch niedlich und weich, seine Turnschuhe waren schmutzig und kurz davor, auseinanderzufallen. Auf Theos zerknirschtem Gesicht zeichneten sich Verwirrung, Misstrauen und Härte ab.
Und ja, ich brach in Tränen aus. Und ich widerstand dem Drang, vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn für alles um Verzeihung zu bitten, selbst für Dinge, die er noch gar nicht erlebt hatte. Ich zügelte auch die Woge des schlechten Gewissens, die ich vor ihm hatte ausschütten wollen, und zwang mich stattdessen mühsam zu einem einfachen »Hallo Theo«. Es kam mir vor, als würden die Worte gar nicht in meinen Mund passen. Als wären sie ganz sperrig vor lauter Sehnsucht und von den Jahren des Wartens und dem plötzlichen, unerträglichen Verlangen, ihn in den Arm zu nehmen.
Er sah mich einfach nur an. Cassie kam uns zur Hilfe.
»Hallo Theo.« Sie lächelte. »Deine Mutter hat gesagt, dass es einen Notfall in der Familie gibt. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, okay? Mach dir keinen Druck. Du weiÃt, ich stehe hinter dir, ja?«
Sie zwinkerte.
Ich war dankbar für das kurze Zwischenspiel. Ich riss mich zusammen und schluckte meine Tränen herunter. Theo war immer noch völlig verwirrt und gestattete mir, die Hand auf seine Schulter zu legen. Gemeinsam gingen wir hinaus in die Sonne.
Wir waren bestimmt schon zwei Häuserblocks gegangen, als er schlieÃlich etwas sagte.
»Ist Dad tot?«
Ach, meine Finte mit dem Notfall in der Familie. Hatte ich ganz vergessen. Ich blieb stehen.
»Nein, nein, Toby geht es gut. Ich wollte einfach nur ⦠ein bisschen Zeit mit dir verbringen, weiÃt du?«
Theo schüttelte den Kopf und entfernte sich von mir. Ich lief ihm hinterher.
»Theo? Was ist denn?«
»Immer musst du so was machen.«
Ach, ja?
»Was denn?«, fragte ich. »Was machen?«
»Lass mich in Ruhe«, wehrte er ab und ging noch schneller. »Ich wusste genau, dass du lügst. Was willst du denn dieses Mal, he? Willst du mich entführen, um Dad eins auszuwischen? Willst du mich gegen ihn aufhetzen? Ist es das? Vergiss es.«
Er marschierte weiter. Jedes einzelne Wort fühlte sich an wie ein Tritt in den Brustkorb. Ich stand da und sah ihm eine Weile nach, dann kam ich wieder zu mir und rannte ihm hinterher.
»Theo, hör mir bitte zu.«
Er blieb stehen, atmete tief und weigerte sich, mich direkt anzusehen.
»Was, wenn ich dir sagen würde, dass wir alles machen können, alles, wonach uns der Sinn steht in dieser Welt? Was würdest du dir wünschen? Was würdest du mehr als alles andere auf der Welt tun wollen?«
Nun sah er mich doch an, um sicherzugehen, dass ich es ernst meinte.
»Ich hätte gerne hundert Dollar.«
Ich dachte kurz nach. »Gebongt. Was noch?«
»Einen Nintendo. Mit zehn Spielen.«
»Gut. Was noch?«
»Ich will ein Luke-Skywalker-Kostüm mit Cape, Stiefeln, Schwert und allem!«
»Gute Wahl. Sonst noch was?«
Er dachte nach. Ich versuchte, ihn in die richtige Richtung zu lenken.
»Gibt es etwas, was du gerne machen würdest? Zusammen mit mir? Einen Ausflug in den Zoo oder so? Abendessen und ins Kino gehen? Komm schon, ich lad dich ein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Nö.« Dann ging er wieder weiter. Und ich sah ihm wieder nach. Dann fiel mir ein, dass James sicher ganz in der Nähe war.
»James«, flüsterte ich. »Kannst du mir nicht helfen?«
Da hörte ich eine Stimme: »Er will mit dir und Toby Karten spielen.«
Karten spielen? Das war alles? Und dann blitzte eine Erinnerung an uns drei auf. Von einem Versuch, alles wieder geradezubiegen. Da war Theo kaum älter als sechs. Toby hatte mithilfe eines Kartenspiels versucht, Theo
das kleine Einmaleins beizubringen, und ehe wir es uns versahen, saÃen wir auf dem WohnzimmerfuÃboden, brachten Theo die Grundregeln des Poker bei und lachten Tränen, als er uns beide binnen einer Stunde eiskalt abgezockt hatte.
Es war nur ein einziger Abend gewesen, und trotzdem wollte dieser Junge lieber Karten spielen als einen Ausflug ins Disneyland oder zu Sea World machen. Das spricht wohl Bände.
»Wie wärâs mit einer Runde Karten?«, rief ich ihm hinterher. Er blieb stehen. Schnell lief ich auf ihn zu. »Du weiÃt schon, du, ich und Dad. Wie in alten Zeiten.«
»Du und Dad.«
Weitere Kostenlose Bücher