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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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hängte ihn sich über die dünnen Schultern und sagte: »Na, dann gute Nacht.«
    Â»Moment«, sagte ich.
    Er legte die Hand auf die Türklinke und wartete.
    Â»Musst du wirklich schon wieder los?«, fragte ich, und es klang gekünstelt. Ich rang mir ein Lachen ab.
    Er drehte sich um. »Was willst du, Margot?«
    Ich faltete die Hände. »Ich will, dass du weißt, dass es mir leid tut.«
    Er biss die Zähne aufeinander.
    Â»Und was genau? Dass du dich seit Wochen jeden Tag den ganzen Tag vor deinem Kind besäufst? Dass du mit seinem Lehrer ins Bett gegangen bist und den Jungen damit zum Gespött der ganzen Schule gemacht hast? Dass du ihn in schmutzigen Klamotten aus dem Haus schickst, dass du nicht mit ihm zum Arzt gegangen bist, als sein Blinddarm entzündet war, oder was?«
    Ich machte den Mund auf, aber es kam kein Laut heraus. Toby sprach weiter.
    Â»Oder meinst du vielleicht, wie du mich behandelt hast, Margot? Wir könnten uns eine ganze Nacht um die Ohren schlagen, um das alles aufzulisten. Ich sag dir was: Mir tut es leid. Wie klingt das?«
    Â»Was tut dir leid?«
    Â»Es tut mir leid, dass ich deine Entschuldigung nicht annehmen kann. Ich glaube dir nämlich nicht. Ich kann nicht.«
    Ohne mich noch einmal anzusehen, verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.
    Am nächsten Morgen brachte ich Theo zur Schule. Ich wachte in einem nassen Bett auf, was nur eins bedeuten konnte: Meine Flügel kamen wieder. Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
    Toby ging – nein, er sprang – neben mir her und plapperte von einer zweiten Runde Poker mit Dad und mir, davon, wie cool es gewesen war, dass er drei Asse und einen Buben hatte, während ich bloß mit ein paar Dreien und Neunen dasaß, davon, dass wir an seinem Geburtstag vielleicht alle zusammen in den Zoo gehen könnten … Und ich dachte an Margot. Meine Aktion musste dringend von Dauer sein. Ich würde sie irgendwie konfrontieren und dafür sorgen müssen, dass sie nicht wieder zerstörte, was ich während meines kurzen Besuches hier erreichte. Ich hatte Angst, nein, ich hatte panische Angst, dass Margot nach allem, was ich getan hatte, nach allem, was ich geopfert hatte, alles wieder zunichtemachen würde, indem sie zum Beispiel ganz schlicht nachfragte, wer Theo an jenem Tag von der Schule abgeholt hatte. Was, wenn alles, was ich tat, Theos und Tobys Erwartungen so hochschraubte, dass Margot sie mit einem Handstreich abstürzen und irreparabel am Boden zerschellen lassen konnte?
    Ich ging zur Riverstone-Klinik. Das weiße Gebäude breitete sich groß und ufoförmig auf einer Wiese aus, zwischen seinen weißen Säulen saßen friedliche Bronzebuddhas, und hinter den umgebenden Sträuchern glitzerte ein Ententeich. Ich folgte den Schildern zur Rezeption.
    Meine Erinnerung an Riverstone war, gelinde gesagt, vage. Nur sehr kurze Szenen blitzen in meinem Gedächtnis auf: eine herablassende Therapeutin in einem Zimmer, das nach Schwimmbad roch. Ein morgendlicher Blick auf meine Hände, der mir offenbarte, dass mir an jeder Hand zwei zusätzliche Finger gewachsen waren. (Das waren sicher die Nebenwirkungen der Beruhigungsmittel, denn die zusätzlichen Finger fielen mir auch bald wieder ab.) Eine Frau, die lächelte, mich bei der Hand nahm und mir etwas über Kängurus erzählte.
    Die Frau an der Rezeption saß in einem hypermodernen Kasten, der sich unter einer Glaskuppel befand. Ich stellte mich als Ruth vor und war richtig erleichtert, endlich mal meinen eigenen Namen benutzen zu können.
    Â»Und Sie sind Ms. Poslusnys … Schwester?«
    Ich hatte mir viel Mühe gegeben, um mein Äußeres zu verändern. Ich trug eine Brille. Eine Baskenmütze. War stark geschminkt. Aber das hatte offenbar nicht viel gebracht.
    Â»Cousine«, sagte ich.
    Â»Hab ich doch gleich gesehen.« Sie lächelte. »Also, normalerweise lassen wir eigentlich keinen Besuch …«
    Â»Es ist ein Notfall«, sagte ich. Und das stimmte ja. Es war ein Notfall. »Eine Verwandte von uns liegt im Sterben, und ich möchte gerne, dass sie es jetzt erfährt und nicht einen Monat, nachdem sie gestorben ist.«
    Die Frau wirkte erschrocken. »Oh. Äh, gut. Ich rufe ihre Therapeutin. Aber versprechen kann ich nichts.«
    Man geleitete mich in die Gemeinschaftsräume, wo Margot und die anderen »Gäste« offenbar eine

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