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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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»stille Stunde« verbrachten. Es sah todlangweilig aus. Margot drehte hier wahrscheinlich durch. Das würde ich an ihrer Stelle jedenfalls. An den Wänden hingen große, in Gold gerahmte Bilder mit Wörtern wie »Akzeptanz« und knackigen Sprüchen wie »Haltung durch Gestaltung« darunter. Ich verdrehte die Augen und stellte mir vor, die Texte auszutauschen mit »Zynismus« und »Versagen ist die Regel«. Es geht doch nichts über einen ausgeprägten Realitätssinn, wenn es darum geht, die Genesung zu unterstützen. Insgesamt war davon auszugehen, dass wer auch immer diese Räumlichkeiten entworfen hatte, »Genesung« mit massenweise weißen Veloursofas, gläsernen Couchtischen, zahllosen Teelichtern und Tulpen gleichsetzte. Aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte klassische Musik. Ich sah auf die große Uhr à la Big Ben, die über der Tür hing, und schon klopfte mein Herz schneller. Wenn sie mir jetzt sagten, ich solle morgen wiederkommen, war ich erledigt.
    Die Therapeutin – eine kleine, schwarzhaarige, drahtige Kanadierin namens Dr. Gale – empfing mich bei den weißen Türen zum Gemeinschaftsraum, nahm mich beim Arm und sah mir durch ihre Brille tief in die Augen.
    Â»Es tut mir leid, aber ich kann sie nicht zu Margot lassen«, sagte sie. »Das verstößt gegen unsere Politik. Ich kann ihr aber gerne eine Nachricht von Ihnen überbringen.«
    Ich dachte kurz nach.
    Â»Ich muss sie aber persönlich sehen«, erklärte ich. »Verstehen Sie das nicht? Sie wird nie richtig gesund werden, wenn sie herausfindet, dass … Nan gestorben ist, während sie hier war. Wahrscheinlich wird es sie sogar völlig aus der Bahn werfen …«
    Â»Tut mir leid«, entgegnete Dr. Gale voller Mitgefühl. »Aber Margot hat bereits eine Erklärung unterschrieben, eine Geschäftsordnung, wenn Sie so wollen, und damit auch mögliche Notfälle in der Familie abgedeckt. Das ist sehr wichtig für ihren Genesungsprozess. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
    Ein Lächeln, kaum länger als ein Zwinkern. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging davon.
    Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Das war ein Rückschlag, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich dachte scharf nach: Wie konnte ich an Margot herankommen, ohne die ganze Klinik in Aufruhr zu versetzen? Okay, dachte ich. Und fing an zu beten. Mach, dass der Engel dieser Frau sie in die richtige Richtung stupst.
    Â»Dr. Gale?«, rief ich ihr quer durch den Raum zu. Auf den Sofas drehten sich diverse Köpfe unsicher nach mir um.
    Dr. Gale blieb stehen. »Wenn Sie bitte nicht so laut reden würden«, ermahnte sie mich schroff.
    Â»Ich muss Margot unbedingt sehen«, sagte ich. »Ich verspreche Ihnen, dass ich mich nicht in ihre Behandlung einmischen werde. Aber es gibt da etwas, das sie wissen muss. Ich bin es, die nicht mehr da sein wird, wenn sie die Klinik verlässt. Ich muss sie noch ein letztes Mal sehen. Bitte.«
    Dr. Gale sah sich um. Einige ihrer Kollegen glotzten bereits. Ihr rechter Fuß zeigte schon in Richtung Tür, aber dann bewegte sie sich doch langsam auf mich zu.
    Sie blieb vor mir stehen und musterte mich. »Okay«, sagte sie. »Sie haben zehn Minuten.« Sie schwieg kurz, dann flüsterte sie: »Wir haben Margot seit ihrer Ankunft mehrmals sedieren müssen, darum kann es sein, dass sie Ihnen etwas schläfrig vorkommt. Das ist normal. Sprechen Sie also nicht zu schnell oder zu laut.«
    Ich nickte. Dr. Gale drückte die Tür auf und rief Margot. Keine Antwort. Noch mal. Aus einem Sessel in der Nähe des Fensters erhob sich langsam eine Gestalt, die sich dann ebenso langsam auf uns zu bewegte.
    Â»Margot«, erklärte Dr. Gale ganz ruhig. »Ihre Cousine ist hier. Sie hat leider schlechte Nachrichten.«
    Â»Meine … Cousine?« Margot war nicht ganz da. Sie blinzelte langsam und sah mich an.
    Dr. Gale nickte. »Ich werde Sie in den Familienraum bringen.«
    Kaum war die Tür hinter uns zu, griff ich nach Margots Hand. Sie zog sie weg und versenkte den Blick in ihren Schoß. Margot in Fleisch und Blut vor mir sitzen zu sehen raubte mir fast den Atem. Es rührte mich zu Tränen, ihre – oder meine – Körperlichkeit so deutlich spüren zu können. Sie wirkte so zerbrechlich, so tot von den Drogen und der Verzweiflung. Und ich schämte mich dafür, dass ich

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