Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
schwarz vor Augen, und er stürzte in die undurchdringliche Finsternis der Nacht. Und danach deckte der Schleier der Barmherzigkeit alles zu, und er wußte nichts mehr.
Elena eilte auf die High-School zu. Es kam ihr vor, als sei sie Jahre weggewesen. Die letzte Nacht erschien ihr wie ein längst vergangenes Ereignis aus ihrer Kinderzeit. Etwas, an das sie sich kaum erinnern konnte. Aber sie wußte, daß sie sich den Folgen stellen mußte. Gestern abend hatte sie es erst mal mit Tante Judith zu tun gehabt. Ihre Tante hatte durch Nachbarn von dem Mord erfahren und sich schrecklich aufgeregt. Noch mehr hatte es sie allerdings mitgenommen, daß ihr niemand sagen konnte, wo Elena steckte. Als Elena so gegen zwei Uhr morgens nach Hause kam, war Tante Judith außer sich vor Sorge.
Elena hatte keine Erklärung. Sie konnte nur sagen, daß sie mit Stefan zusammengewesen war, daß man ihn angeklagt hatte, sie jedoch wußte, daß er unschuldig war. Alles andere, was sonst noch passiert war, mußte sie für sich behalten. Selbst, wenn Tante Judith ihr geglaubt hätte, verstanden hätte sie es nie. An diesem Morgen hatte Elena verschlafen, und jetzt war sie zu spät dran. Außer ihr war niemand auf den verlassenen Straßen. Der Himmel war grau, und Wind kam auf. Sie wünschte sich verzweifelt, Stefan zu sehen. Die ganze Nacht hindurch, als sie so fest geschlafen hatte, hatte sie schreckliche Sachen von ihm geträumt.
Ein Alptraum war besonders realistisch gewesen. Stefans Gesicht war bleich, sein Blick wütend und anklagend. Er hielt ein Buch hoch und sagte: „Wie konntest du nur, Elena? Wie konntest du nur?“ Dann warf er ihr das Buch vor die Füße und ging davon. Sie rief ihm nach, bitte, bitte stehenzubleiben, doch er lief einfach weiter, bis er in der Dunkelheit verschwand. Als sie
das Buch betrachtete, sah sie, daß es einen dunkelblauer Samteinband hatte. Ihr Tagebuch. Sie wurde wieder wütend, als sie daran dachte, wie ihr Tagebuch gestohlen worden war.
Aber was hatte der Traum zu bedeuten? Welche Stelle in ihrem Tagebuch hatte Stefan so wütend gemacht? Elena wußte es nicht. Ihr war nur eins klar. Sie mußte ihn sehen, seine Stimme hören, seine Umarmung spüren. Von ihm getrennt, fühlte sie sich, als ob die Hälfte von ihr fehlen würde. Sie rannte die Stufen zur Schule hoch und durch die fast leeren Flure zu dem Schulzimmer, in dem Stefans erste Unterrichtsstunde stattfand. Wenn sie nur für einen Moment einen Blick auf ihn werfen konnte, würde es ihr gleich besser gehen. Aber er war nicht da. Durch das kleine Fenster in der Tür konnte sie seinen leeren Platz sehen. Matt war da, und der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr noch mehr angst. Er betrachtete Stefans Platz mit einer müden Vorahnung. Elena wandte sich wie mechanisch von der Tür ab. Wie ein Automat stieg sie die Stufen hoch und ging in ihre Geometrieklasse. Als sie die Tür öffnete, wandten sich alle Gesichter zu ihr um. Hastig glitt sie auf den leeren Platz neben Meredith. Mrs. Halpern hielt kurz inne, betrachtete Elena einen Moment und fuhr dann fort. Als sie etwas an die Tafel schrieb, schaute Elena zu Meredith.
Meredith nahm ihre Hand. „Bist du okay?“ flüsterte sie. „Ich weiß nicht“, antwortete Elena wie abwesend. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Meredith' Finger waren trocken und heiß.
„Hast du eine Ahnung, was mit Stefan los ist?“ „Du hast es also noch nicht gehört?“ Meredith riß ihre dunklen Augen weit auf.
Elena spürte, wie das Gewicht, das auf ihrer Brust lastete, immer größer wurde. „Sie... man hat ihn doch nicht verhaftet, oder?“ Nur mit Mühe stieß sie die Worte hervor. „Elena, es ist schlimmer als das. Er ist verschwunden. Die Polizei war heute morgen in seiner Pension, und er war nicht da. Die Beamten sind dann in die Schule gekommen, aber hier ist er auch nicht aufgetaucht. Man hat sein Auto leer an der Old-Creek- Road gefunden. Jetzt nimmt man an, daß er geflohen ist, weil er den Mord begangen hat.“ „Das stimmt nicht!“ rief Elena. Sie sah, wie die anderen sich zu ihr umdrehten, aber das war ihr egal.
„Er ist unschuldig.“ „Wir kennen deine Meinung, Elena. Aber warum sonst sollte er abgehauen sein?“ „Er ist nicht geflohen.
Und er hat's nicht getan.“ Wut stieg in Elena auf und drängte die lähmende Angst zurück. Ihr Atem kam in kurzen Stößen.
„Er würde niemals freiwillig fortgehen.“
„Du meinst, daß ihn jemand gezwungen hat? Aber wer? Tyler würde sich niemals
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