Tagebuch (German Edition)
es sei etwas sehr Leckeres, schaue möglichst wenig hin, und ehe ich mich versehe, ist es aufgegessen. Morgens beim Aufstehen – auch etwas, was nicht angenehm ist – springe ich aus dem Bett, denke mir »du legst dich gleich wieder gemütlich rein«, laufe zum Fenster, mache die Verdunklung weg, schnüffle so lange an dem Spalt, bis ich ein bisschen frische Luft spüre, und bin hellwach. Das Bett wird so schnell wie möglich auseinander gelegt, dann ist die Verführung weg. Weißt du, wie Mutter so etwas nennt? Eine Lebenskünstlerin. Findest du das Wort nicht auch witzig?
Seit einer Woche sind wir alle ein bisschen durcheinander mit der Zeit, weil anscheinend unsere liebe und teure Westerturmglocke weggeholt worden ist, für irgendeine Fabrik, und wir wissen seither weder bei Tag noch bei Nacht genau, wie spät es ist. Ich hoffe, man wird etwas finden, was der Nachbarschaft die Glocke wenigstens ein bisschen ersetzt, ein zinnernes, kupfernes oder was weiß ich für ein Ding.
Wo ich auch bin, unten oder oben oder wo auch immer, jeder schaut mir bewundernd auf die Füße, an denen ein paar außergewöhnlich schöne Schuhe (für diese Zeit!) prangen. Miep hat sie für 27,50 Gulden ergattert. Weinrot, Peau de Suède und mit einem ziemlich hohen Blockabsatz. Ich gehe wie auf Stelzen und sehe noch größer aus, als ich ohnehin schon bin.
Gestern hatte ich einen Unglückstag. Ich stach mich mit dem hinteren Ende einer dicken Nadel in den rechten Daumen. Die Folge war, dass Margot an meiner Stelle die Kartoffeln schälen musste (das Gute beim Schlechten) und ich krakelig schrieb. Dann rannte ich mit dem Kopf gegen die Schranktür, fiel fast rückwärtsum, bekam einen Rüffel wegen des Lärms, den ich wieder gemacht hatte, durfte den Wasserhahn nicht aufdrehen, um meine Stirn zu betupfen, und laufe nun mit einer Riesenbeule über dem rechten Auge herum. Zu allem Unglück blieb ich mit meinem rechten kleinen Zeh im Stift vom Staubsauger hängen. Es blutete und tat weh, aber ich hatte so viel mit meinen anderen Leiden zu tun, dass dieses Wehwehchen dagegen ins Nichts versank. Dumm genug, denn nun laufe ich mit einem infizierten Zeh und Zugsalbe, Verbandmull und Heftpflaster herum und kann meine großartigen Schuhe nicht anziehen.
Dussel hat uns zum soundsovielten Mal in Lebensgefahr gebracht. Miep brachte wahrhaftig ein verbotenes Buch für ihn mit, eine Schmähschrift über Mussolini. Unterwegs wurde sie von einem SS-Motorrad angefahren. Sie verlor die Nerven, schrie »Elende Schufte!«, und fuhr weiter. Ich will lieber nicht daran denken, was passiert wäre, wenn sie mit zum Büro gemusst hätte!
Deine Anne
Die Pflicht des Tages in der Gemeinschaft: Kartoffelschälen!
Der eine holt das Zeitungspapier, der zweite die Messer (und behält natürlich das beste für sich selbst), der dritte die Kartoffeln, der vierte das Wasser.
Herr Dussel fängt an. Er schält nicht immer gut, dafür aber ohne Pause, schaut kurz nach links und rechts, ob jeder es auch ja auf die gleiche Art tut wie er. Nein!
»Anne, schau mal, ich nehme das Messer so in die Hand, schäle von oben nach unten! Nein, so nicht, sondern so!«
»Ich finde es anders bequemer, Herr Dussel«, bemerke ich schüchtern.
»Aber das ist doch die beste Art, du kannst es mir glauben. Mir kann es natürlich egal sein, du musst es selbst wissen.«
Wir schälen wieder weiter. Ich schaue verstohlen zu meinem Nachbarn hinüber. Der schüttelt gedankenverloren den Kopf (sicher über mich), schweigt aber.
Ich schäle weiter, schaue dann kurz zur anderen Seite, wo Vater sitzt. Für Vater ist Kartoffelschälen nicht einfach eine Tätigkeit, sondern eine Präzisionsarbeit. Wenn er liest, hat er eine tiefe Falte am Hinterkopf, wenn er aber hilft, Kartoffeln, Bohnen oder anderes Gemüse vorzubereiten, dann scheint überhaupt gar nichts zu ihm durchzudringen, dann hat er sein Kartoffelgesicht. Und nie wird er eine weniger gut geschälte Kartoffel abliefern, das gibt es einfach nicht, wenn er so ein Gesicht macht.
Ich arbeite weiter, schaue kurz auf und weiß genug. Frau van Daan versucht, ob sie Dussels Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Erst schaut sie zu ihm hin, und Dussel tut, als ob er nichts merkt. Dann zwinkert sie ihm zu, Dussel arbeitet weiter. Dann lacht sie, Dussel schaut nicht hoch. Jetzt lacht Mutter auch, Dussel macht sich nichts daraus. Frau van Daan hat nichts erreicht, nun muss sie es also anders anfangen. Kurze Stille, dann kommt: »Putti, nimm doch
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