Tagebuch (German Edition)
macht es seiner Familie auch nicht einfacher, weil er immer mit der Vorstellung herumläuft: Was kann es mir noch ausmachen, ich sterbe sowieso bald! Ich kann mir die Stimmung bei Voskuijls zu Hause gut vorstellen, wenn ich mir überlege, wie gereizt hier schon alle sind.
Ich schlucke jeden Tag Baldriantabletten, gegen Angst und Depression, aber das verhütet doch nicht, dass meine Stimmung am Tag darauf noch miserabler ist. Einmal richtig und laut zu lachen, das würde mehr helfen als zehn Baldriantabletten. Aber das Lachen haben wir fast verlernt. Manchmal habe ich Angst, dass ich vor lauter Ernst ein starres Gesicht und Falten um den Mund bekommen werde. Mit den anderen ist es auch nicht besser, alle erwarten mit bangen Gefühlen den großen Brocken, der vor uns liegt, den Winter.
Noch etwas trägt nicht zu unserer Erheiterung bei, der Lagerarbeiter van Maaren ist misstrauisch geworden, was das Hintergebäude betrifft. Es muss jemandem, der ein bisschen Gehirn hat, wohl auffallen, dass Miep sagt, sie geht ins Laboratorium, Bep ins Archiv, Kleiman zum Opekta-Vorrat. Und Kugler behauptet, das Hinterhaus gehöre nicht zu dem Gebäude, sondern zum Nachbarhaus.
Es könnte uns egal sein, was Herr van Maaren von der Sache hält, wenn er nicht als unzuverlässig bekannt und sehr neugierig wäre, sodass er sich nicht mit ein paar leeren Worten abspeisen lässt.
Eines Tages wollte Kugler mal besonders vorsichtig sein, zog zehn Minuten vor halb eins seinen Mantel an und ging zur Drogerie um die Ecke. Keine fünf Minuten später war er wieder zurück, schlich wie ein Dieb über die Treppe und kam zu uns. Um Viertel nach eins wollte er wieder gehen, traf aber auf dem Treppenabsatz Bep, die ihn warnte, dass van Maaren im Büro säße. Kugler machte rechtsum kehrt und saß bis halb zwei bei uns. Dann nahm er seine Schuhe in die Hand und ging auf Strümpfen (trotz seiner Erkältung) zur Tür des vorderen Dachbodens, balancierte Stufe um Stufe die Treppe hinunter, um jedes Knarren zu vermeiden, und kam nach einer Viertelstunde von der Straßenseite ins Büro.
Bep, die van Maaren inzwischen losgeworden war, kam, um Herrn Kugler bei uns abzuholen, aber der war schon längst weg, der war inzwischen noch in Strümpfen auf der Treppe. Was werden die Leute auf der Straße wohl gedacht haben, als der Direktor seine Schuhe draußen wieder anzog? Hach, der Direktor in Socken!
Deine Anne
Mittwoch, 29. September 1943
Liebe Kitty!
Frau van Daan hat Geburtstag. Wir haben ihr außer einer Käse-, Fleisch- und Brotmarke nur noch ein Glas Marmelade geschenkt. Von ihrem Mann, Dussel und vom Büro hat sie auch ausschließlich Blumen oder Esswaren bekommen. So sind die Zeiten nun einmal!
Bep hat in dieser Woche einen halben Nervenzusammenbruch bekommen, so oft wurde sie geschickt. Zehnmal am Tag bekam sie Aufträge, immer wurde darauf gedrängt, dass sie etwas schnell holen müsse, dass sie noch einmal gehen müsse oder dass sie es falsch gemacht habe. Wenn man dann bedenkt, dass sie auch unten im Büro ihre Arbeit erledigen muss, Kleiman krank ist, Miep zu Hause ist mit einer Erkältung und sie selbst sich den Knöchel verstaucht hat, Liebeskummer und zu Hause einen murrenden Vater hat, dann kann man sich vorstellen, dass sie weder aus noch ein weiß. Wir haben sie getröstet und gesagt, sie müsse nur ein paar Mal energisch sagen, dass sie keine Zeit hätte, dann würde die Einkaufsliste bestimmt von alleine kleiner werden.
Am Samstag spielte sich hier ein Drama ab, das in seiner Heftigkeit noch nicht seinesgleichen hatte. Es begann mit van Maaren und endete mit einem allgemeinen Streit und Geschluchze. Dussel hat sich bei Mutter darüber beklagt, dass er wie ein Ausgestoßener behandelt würde, dass niemand von uns freundlich zu ihm sei und dass er uns doch gar nichts getan habe und noch eine Reihe süßlicher Schmeicheleien, auf die Mutter diesmal zum Glück nicht reinfiel. Sie sagte ihm, dass er alle sehr enttäuscht und uns mehr als einmal Anlass zu Ärger gegeben hätte. Dussel versprach das Blaue vom Himmel herunter, aber wie immer ist bisher nichts dabei herausgekommen.
Mit van Daans geht es schief, ich sehe es kommen! Vater ist wütend, weil sie uns betrügen, sie unterschlagen Fleisch und Ähnliches. Oh, welch ein Ausbruch schwebt wieder über unseren Köpfen? Wenn ich nur nicht in all diese Scharmützel verwickelt wäre, wenn ich nur weg gehen könnte! Sie machen uns noch verrückt!
Deine Anne
Sonntag, 17. Oktober
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