Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Gemeinde am Abend persönlich aufsuchen werde und keinem etwas geschähe, wenn sie die Waffen abgäben und keinen Widerstand leisteten. Die Delegation kehrte heim und setzte das Protokoll dieses »historischen Aktes« auf. Merkwürdige Gestalten im Halbdunkel, angespannte Stille, verlegenes Warten. Der Schuster heißt Krummfuß; welch herrlicher Name für einen Schuster!
Als ich die Galerie des Gemeindehauses betrete, galoppieren vier Kosaken in den Hof. Sie kommen aus einer mit Raureif überzogenen, russisch anmutenden verschneiten Landschaft; nähern sich auf prächtigen Pferden, gut gekleidet, schussbereite Maschinenpistolen in der Hand. Vorne ein ganz junger Bursche, er trägt eine weiße Pelzmütze und einen Pelzrock aus weißem Lammfell; hinter ihm ein finster dreinblickender älterer Soldat, auf seinem Helm der Sowjetstern. Er fragt mich, wer ich sei. Ich kratze meine paar Brocken Slowakisch und Russisch zusammen und erwidere, ich sei ein ungarischer Schriftsteller. »Ein Schriftsteller?«, fragt er, bricht in Gelächter aus und reicht mir die Hand. »Gut.« Damit steigt er vom Pferd ab und geht zum Gemeindenotar hinein.
Die neugierig herumlungernden Menschen auf der Straße begrüßen einander, auch Fremde. Diese Höflichkeit kommt aus ihrer Verlegenheit, ihrer Befangenheit, ihren seltsamen Schuldgefühlen. Niemand weiß, was nun passieren, von wem sein Schicksal abhängen wird – darum sind sie so höflich.
So geschah es; ohne einen einzigen Schuss abzugeben, als kämen sie aus einem russischen Roman, galoppierten diese gut gelaunten Kosakenreiter ins Bild. Im Dorf völlige Stille und Ordnung. Die Russen interessieren sich nicht für diese kleinen Dörfer, sie mischen sich nicht ins Leben der Bevölkerung ein. Manchmal geht eine Patrouille vorbei, Menschen von sehr weit weg, Mongolen mit chinesischen Bärten. Manche von ihnen begrüßen die Passanten gleich auf Ungarisch: »Guten Morgen, guten Morgen.«
Einige herrschaftliche Häuser im Ort luden die russischen Offiziere natürlich gleich zum Abendessen ein. Diese gingen hin, aßen, tranken, benahmen sich freundlich. Dieselben herrschaftlichen Häuser haben noch vor wenigen Tagen die deutschen Gestapo-Offiziere hofiert. Das ist das Duckmäusertum der ungarischen Mittelklasse: Sie meinen, mit Zwetschgenschnaps und knusprigem Backhuhn ließen sich immer alle Probleme lösen.
Am Tag nach der Besatzung läutet es an meiner Tür: Ein blasser Mann kommt zum Vorschein, stellt sich mir vor. Es ist der orthodoxe Rabbiner F ., der sich seit Monaten hier in der Nachbarschaft versteckt hält. Er will wissen, ob er sich schon draußen zeigen dürfe. In den letzten Monaten hat er fast seine ganze Familie verloren. Ich rate ihm, sich noch Zeit zu lassen, bis Budapest gefallen ist.
Die Pfeilkreuzler stellten diese Weihnachten statt Weihnachtsbäumen Galgenbäume auf; etwa am Freiheitsplatz, wo sie am zweiten Weihnachtstag fünf ihrer Opfer – angeblich Geiseln – gehenkt haben.
Früher wurden zu Weihnachten auf den öffentlichen Plätzen hohe, kerzengerade Tannen, sogenannte »Arme-Leute-Weihnachtsbäume«, aufgestellt. Aber die öffentlichen Galgen am Freiheitsplatz passen diese Weihnachten irgendwie besser in unsere Zeit.
Seit Tagen leben wir ohne Strom, und auch unsere Kerzen haben wir fast alle verbraucht; nur ab und zu entzünden wir kurz das blasse Flämmchen; nachmittags um vier herrscht bereits Dunkelheit. Wir sitzen im Dunkeln und lauschen dem Trommelfeuer, der Belagerung Budapests.
Schadenfrohes Räuspern kündigt die ersten Rechenschaftsforderungen an; höhnisch umschleichen die Dorfbewohner diejenigen, die im Ruf stehen, Pfeilkreuzler zu sein. Niemand arbeitet. Was tun sie? Sie räuspern sich, warten.
Am zweiten Tag der Besetzung Leányfalus werden zu Mittag drei Russen bei uns vorstellig. Ich rasiere mich gerade; ich solle mich nicht stören lassen und fortfahren, mich einzuseifen, ermuntern sie mich lachend. Sie beginnen eine Unterhaltung mit den weiblichen Bewohnern der Villa; ich wische mir den Seifenschaum vom Gesicht und nehme mit ihnen im Wohnzimmer Platz.
Alle drei sind jung; zwei sind Offiziere, »Kapitano«, im Hauptmannsrang, der dritte ist ein einfacher Soldat, Rumäne. Die beiden Offiziere tragen warme Ledermäntel, gute Stiefel, Kosakenfellmützen; sie sind schwer bewaffnet. Der eine ist Kaukasier, der andere Ukrainer. Der Kaukasier ist mitteilsam, der Ukrainer ein wenig verschlossen. Wie in allen Häusern des Dorfes suchen sie auch
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